Die junge Frau auf dem Foto trägt die Haare kurz geschnitten und eine weiße Bluse. Sie strahlt vor Energie und Tatendrang. Auf den heutigen Betrachter wirkt sie sehr modern und man denkt nicht gleich an die 1930er und 40er Jahre, als in westlichen Ländern die Frauenbewegung erstarkte, zumal chinesische Frauen noch lange nicht so weit waren. Aber genau dieses Bild einer modernen zupackenden Chinesin kennt man von der Regisseurin Esther Eng, die von allen nur Bruder Ha genannt wurde.

Als Ng Kam-ha wurde sie 1914 in San Francisco geboren. Mit gerade 22 Jahren koproduzierte sie in Hollywood den kantonesischsprachigen, teilweise in Farbe gedrehten Film Heartache (心恨), den sie noch im selben Jahr mit nach Hongkong brachte. Im März 1937 wurde sie mit dem patriotischen Film National Heroine (民族女英雄) die erste Regisseurin Südchinas. Mehrmals überquerte sie in den 1930er und 40er Jahren den Pazifik, um mehr als zehn chinesischsprachige Filme zu drehen. Dabei war sie Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Verleiherin in einer Person. Die Filme liefen sowohl in China als auch in den Chinatowns Amerikas. Ihre Filme waren patriotisch und feministisch. Und 1941 filmte sie für Golden Gate Girls (金门女) den noch nicht mal einjährigen Bruce Lee. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog Esther Eng nach New York. Hier wurde sie Kinobetreiberin und eröffnete das Restaurant Bobo, das ein Treffpunkt für chinesische und amerikanische Prominente wurde. Und trotzdem war diese bemerkenswerte Frau, die ihrer Zeit immer ein Stück voraus war, jahrelang von der Filmgeschichte vergessen. Bis die Regisseurin Louisa Wei, gestützt auf ein paar hundert verloren geglaubte Photographien, Interviews und eigene Nachforschungen, Esther Eng 2013 wieder ins Gedächnis der Menschheit zurückholte.

Der Weg zu „Golden Gate Girls“

Die Filmwissenschaftlerin und Regisseurin Louisa Wei beschäftigt sich schon seit Studienzeiten mit der Geschichte von Filmemacherinnen. Den Anstoß dafür hatte Hu Meis Film Army Nurse (女儿楼) gegeben. Diesen Forschungsschwerpunkt setzte sie dann in Hongkong fort, wo er Teil ihrer Vorlesungen zur Filmgeschichte wurde. Sie bemerkte, dass in der Filmgeschichte nur selten von Regisseurinnen die Rede war und setzte genau dort an. Über die amerikanische Filmpionierin Dorothy Arzner stieß sie auf Esther Eng. Die beiden waren nicht nur zur gleichen Zeit aktiv im Filmgeschäft, sondern waren sich, was Kleidungsstil und Frisur betraf, sehr ähnlich.

Das weckte Louisa Weis Neugier und während der nächsten drei Jahre reiste sie wiederholt nach San Francisco, Los Angeles, Hawai und New York. Anfangs fürchtete sie, das Material würde für einen Film nicht ausreichen, denn es gab keine Tonaufnahmen, Tagebücher oder Briefe von Esther Eng. Alles, was sie hatte, waren Fotos. Erst als sie in New York mit ehemaligen Schauspielerinnen und Bekannten von Esther Eng sprach und sah, wie die deren Mimik und Gestik nachahmten, hatte sie das ganze Bild dieser Frau vor Augen. Nun konnte sie die über die Jahre verstreuten Mosaiksteinchen endlich zusammensetzen. Nach dem „Geheimnis“ von Esther Eng gefragt, sagt Louisa Wei: „Esther Eng, die ihr ganzes Leben „Bruder Ha“ genannt wurde, war wahrscheinlich die erste lesbische Regisseurin im chinesischsprachigen Film. Aber wie sind die Leute zur damaligen Zeit damit umgegangen? Als ob es nicht schon schwer genug war, als Frau in diesem Metier tätig zu sein. Das ist heute kaum noch vorstellbar.“

Der zeitliche Hintergrund der 1930er Jahre wird deshalb mithilfe von zwei Zeitgenossinnen genauer beleuchtet: Zum einen steht Anna May Wong, die chinesischstämmige Hollywoodschauspielerin, als Beispiel für den ethnischen Hintergrund und zum anderen Dorothy Arzner für die sexuelle Orientierung.

Die Beispiele zeigen, wie die Chancen für Esther Eng standen, als Regisseurin in Amerika zu arbeiten. „Ich glaube“, sagt Lousisa Wei, „die damaligen Chancen waren eher gering, aber nichts passiert zufällig, also wollte ich es genau wissen.“ So wurde Esther Eng, die frühe Hollywood-Regisseurin, Chinesin in Amerika, offen lesbisch lebende Frau in einer konservativen Gesellschaft, die die Chance ergriff, die der Krieg Frauen in ihrem Beruf bot, zur Inspiration für heutige Zuschauer. Golden Gate Girls, a.k.a. Golden Gate Silver Light (金门银光梦) ist die Begegnung zweier Regisseurinnen aus unterschiedlichen Generationen. Der Film ist sowohl auf äshetischer als auch historisch-soziologischer Ebene gelungen, was mit zahlreichen Festivaleinladungen und positiven Filmbesprechungen honoriert wurde.

Louisa Wei hat den Film auch in Amerika gezeigt. In San Francisco war er im Great Star Theatre zu sehen. Hier lief auch Esther Engs letzter Film, als das Kino noch Great China hieß. Louisa Wei erinnert sich, dass das Kino ziemlich groß gewesen sei, mit mehr als 600 Sitzplätzen. Und viele Zuschauer hätten sich noch an Esther Eng erinnern können. Sie hatte das Gefühl, der Film kehre nun endlich nach Hause zurück. Auch in New Yorks Chinatown gab es eine Vorführung. Dort wurde er ebenfalls gefeiert als ein Film, der endlich einmal das Leben der Chinesen in Amerika zeige.

Interview mit der Regisseurin Louisa Wei

Der Dokumentarfilm Golden Gate Girls bringt uns Esther Eng näher, aber auch Ihre Nachforschungen zu ihr. Neben historischen Aufnahmen und Interviews sind auch Sie selbst im Film zu sehen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Die meisten der auf Festivals ausgezeichneten chinesischen Dokumentarfilme bilden die Wirklichkeit im Stil des Direct Cinema ab. Zu den Regeln dieses Stils gehört, dass der Filmemacher nie selbst in Bild oder Ton auftaucht, er nicht in das Geschehen eingreift. Aber meiner Meinung nach muss das nicht so sein, der Dokumentarfilm kann freier sein. Um den vielschichtigen historischen Hintergrund in Golden Gate Girls zu vermitteln, war es naheliegend, Voice-over, also eine über die Bilder gelegte Erzählstimme zu benutzen.

In Filmen von Frauen stehen oft weibliche Rollen im Vordergrund. Mir fiel auf, dass sie emotionaler sind – vielleicht weil Frauen generell gefühlsbetonter sind. Ich habe also in den Film auch meine eigenen Empfindungen hineingebracht, und so kam ich in den Film. Wie eine Archäologin, die den Zuschauer neugierig macht und führt. Wäre das nicht der Fall, könnte der Zuschauer denken, warum soll ich mir plötzlich diese alten Sachen ansehen. Die Bilder, Informationen und Töne im Film sind eher assoziativ verbunden und halten nicht an einer streng logischen Abfolge der Dinge fest. Ein bestimmtes Bild ergibt einen bestimmten Sound und treibt so das Geschehen voran.

Was hat Sie an Esther Eng in erster Linie fasziniert?

Dass sie ihre Ideen auch in die Tat umgesetzt hat. Als ich den Film machte, wollte ich ein bisschen meine Studenten ermutigen: Seht doch wie jung und auch unerfahren Esther Eng am Anfang war, aber das hat sie nicht davon abgehalten, ihre Chance zu ergreifen. Natürlich hat sie währenddessen viel dazu gelernt. Oft mangelt es nicht an Gelegenheiten, aber sie müssen ergriffen werden. Man muss lernen für etwas zu brennen und zu kämpfen. Bei der Beschäftigung mit der frühen Filmgeschichte entdeckt man, dass es jedem so ergeht, ganz gleich zu welcher Zeit.

War die Zeit, in der Esther Eng lebte, offen für Frauen im Filmgeschäft?

Ich denke, dass der Krieg für sie eine Chance war. Es gab ja bereits zu Zeiten des Stummfilms viele Regisseurinnen. Die meisten von ihnen begannen nach 1910 Filme zu drehen. Sie tauchen mehr oder weniger um die Zeit des Ersten Weltkriegs auf. Nach dem Krieg, als sich das Leben wieder normalisiert hatte, so um 1926, verschwanden sie wieder. Als etwa 1929 in Hollywood das Zeitalter des Tonfilms anbrach, war die Filmindustrie wieder von Männern dominiert. Vor und nach dem Krieg war die Gesellschaft in Bewegung, man war flexibler, auch was die Rollenbilder von Frauen und Männern anging, deshalb hatten Regisseurinnen und Autorinnen zu jener Zeit mehr Freiräume. Die Frauen, über die ich im Film spreche, von Esther Eng und Pearl S. Buck bis hin zu Song Meiling, machten vor dem Krieg ihre ersten Schritte, konnten aber dann während des Zweiten Weltkriegs ihr außerordentliches Talent beweisen. Nach dem Krieg waren sie gezwungen ihre früheren Rollen einzunehmen. Ende der 1940er Jahre, als die Welt sich wieder beruhigt hatte, gab es im Prinzip keine aktiven Regisseurinnen mehr. Und da ist egal, ob man nach Amerika, Deutschland oder Japan schaut.

Wird die Geschichte dieser Regisseurinnen heute aufgearbeitet? Wo kann man derartige Materialien finden?

2016 erschien in der City University of Hongkong Press die Überarbeitung meines Buches „Cinema East and West“, darin finden sich die frühesten Regisseurinnen vieler Länder. Es bietet damit einen guten filmhistorischen Überblick.

Nach Fertigstellung des Films Golden Gate Girls hatte ich noch unzählige Materialien, die keinen Eingang in den Film gefunden hatten. Also habe ich ein Buch daraus gemacht, das in Hongkong „Die Geschichte von Bruder Ha“ heißt. Die Beijinger Version erschien unter dem Titel „Bright as Esther Eng. Pioneer Cross-ocean Filmmakers and Modern China“. Dieses Buch erzählt von der ersten chinesischstämmigen Regisseurin Marion E. Wong, von der Schauspielerin Anna May Wong, oder von Olive Young, die aus den USA nach Shanghai kam und hier ein Star wurde. Was man im Netz an Informationen findet, ist oft unvollständig. Ich beschäftige mich mit dem Thema, weil ich diesen Regisseurinnen und Filmemacherinnen wieder ihren Platz in der Filmgeschichte geben will.

Mit der Frauenrolle in Golden Gate Girls verglichen, wo liegen heutige Herausforderungen für Regisseurinnen oder berufstätige Frauen generell?

In den letzten Jahren hat sich da viel getan. Wenn man früher die einzige Regisseurin war, hatte man einerseits ein großes Medienecho, anderserseits aber waren die Missgunst und Herablassung gegenüber diesen Frauen groß. Die Erfolge dieser Regisseurinnen haben auch den Blick auf Frauen verändert. Man wird nicht mehr abgelehnt, nur weil man eine Frau ist. Da ich gerade die Medien erwähnt habe: Nicht alles, was man liest, ist auch richtig. Bis in die 1970er Jahre behaupteten sie beispielsweise, Tang Shu Shuen sei die erste Regisseurin Hongkongs gewesen, obwohl es vorher Esther Eng und andere gegeben hatte. Aber die hatten die Medien einfach nicht auf dem Schirm.

Haben Sie weitere Filmprojekte?

Im vorigen Jahr habe ich eine 52-minütige Dokumentation für das Fernsehen fertiggestellt. Der Film Writing 10000 Miles (跋涉者萧红) über Xiao Hong ist Teil einer Serie über chinesische Schriftsteller aus Hongkong und Taiwan. Man kann ihn auf youtube sehen. Und jetzt mache ich einen Film über den Schriftsteller Xiao Jun, der in diesem Jahr fertig werden soll.

Louisa Wei Shiyu ist in Shandong geboren, ging Anfang der 1990er Jahre nach Kanada, wo sie in Filmwissenschaften promovierte. Seit 2001 lehrt sie an der City University of Hongkong und begann 2003 Dokumentarfilme zu drehen, u.a. Cui Jian: Rocking China (崔健:摇滚中国), Storm under the Sun (红日风暴), Golden Gate Girls.

Autorin:

Wu Xiaoshuang hat an der City University of Hongkong und in Edinburgh studiert und arbeitet für das CHAO Kunstzentrum. Ihre Interessen gelten Kunst, Kultur und gesellschaftlichen Themen. Während ihres Studiums war sie an der Postproduktion von Golden Gate Girls beteiligt.

in: goetheinstitut.chinamagazin 2019

Wu Xiaoshuang: Auf den Spuren der vergessenen Regisseurin Esther Eng
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