Wahre Geschichten für den Film zu adaptieren ist gar nicht so einfach. Vergleicht man dann den Film mit den wirklichen Ereignissen, fragt man sich, was denn nun wirklich wahr sei und auf tatsächlichen Fakten beruht. Das ist wohl unvermeidbar. In der nochmaligen Gegenüberstellung von Realität und Fiktion schlägt man sich meist auf die Seite des Films und seiner künstlerischen Ausdruckskraft. Dying to Survive und Everyday Hero beruhen beide auf wahren Geschichten, sind aber formal sehr unterschiedlich, was Darstellung der Hauptfigur und Thema betrifft. In Dying to Survive geht es um das Problem der medizinischen Versorgung, während Everyday Hero sich dem Stadt-Land-Unterschied widmet.

Der Realismus hat seinen Ursprung bekanntlich in der Ablehnung der Romantik und wollte das wirkliche Leben typischer Figuren zeigen. Der sozialistische Realismus als künstlerische Form hingegen stellte den Sozialismus über den Realismus mit dem Ziel, seine politischen Botschaften zu verbreiten. Die genannten Filme zeigen vor demselben Hintergrund des heutigen China zwei Möglichkeiten des Umgangs damit.

Dying to Survive basiert auf der wahren Geschichte von Ji Yong, der im Film Cheng Yong heißt, und vom Medikamentenschmuggler zum Helden wird. Das offiziell zugelassene Leukemie-Medikament aus der Schweiz ist patentgeschützt und darum für die meisten Menschen unbezahlbar. Deshalb besorgt Cheng Yong die lebenserhaltende Medizin aus Indien. Everyday Hero folgt der wahren Geschichte von Guo Jiannan, der sein Leben dem Kampf gegen Armut widmet und schließlich mit 50 Jahren in dem Dorf, wo er lebt, zusammenbricht und stirbt.

Beide leben in einfachen Verhältnissen und beide sind opferbereite Männer im mittleren Alter. Cheng Yong ist ein heldenhafter Antiheld und Bruder Nan ein sozialistisch-realistischer Held im klassischen Sinn. Zu Beginn ist Cheng Yongs moralischer Standpunkt durchaus zweifelhaft, denn er bewegt sich teilweise am Rand des Legalen. Im Vergleich dazu ist Bruder Nan ein Beispiel an Moral: Er ist idealistisch, uneigennützig und hoffnungslos optimistisch. Auch ihr Heldentum ist nicht gleich. Cheng Yong kommt aus armen Verhältnissen vom Rand der Gesellschaft wie jene, die so dringend medizinische Hilfe benötigen. Er bewegt sich mit ihnen auf gleicher Augenhöhe. Bruder Nan, der gleich am Anfang in den Heldenstatus erhoben wird, ist den Dorfbewohnern an Bildung, finanziellem Background und Anpassungsfähigkeit weit überlegen, folglich blickt er auf sie hinab. Hinzu kommt, dass die Realität in Dying to Survive härter ist, weil die Feinde überall sind: Multinationale Pharmakonzerne und Medizinfälscher tun ihr Bestes, um unter Ausnutzung von Armut und Krankheit den eigenen Profit zu maximieren. Everyday Hero spielt in einer geradezu utopischen Welt, hier gibt es keine bösen Menschen. Egal ob Hygiene-Inspektor, Mitarbeiter des Hilfskommitees für die Armen oder Manager eines Staatsbetriebs, alle verstehen und unterstützen Bruder Nans unermüdlichen Einsatz für die Armen. Ebenso die Dorfbewohner: vom Chef einer Austernfarm, der erfolgreich die Armut hinter sich gelassen hat, bis zur taubstummen Entenzüchterin, jeder ist dankbar für Bruder Nans Einsatz und widmet sich dem Aufblühen des Dorfes.

Wenn man so will, zeigen beide Filme eine – wenn auch unterschiedliche – Spielart von sozialistischem Realismus. Die Gelder für Everyday Hero stammen zum Großteil von der Stadt- und der Provinzregierung Kanton, die Hauptdarsteller haben einen politischen oder militärischen Hintergrund. Der Realismus hier tendiert zum Idealismus und ist ein politisches Instrument, tief verwurzelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seiner Ideologie. Schon damals wollte man mittels realistischer Filme Orientierung geben und moralische Werte vermitteln. Cinematografisch hält der Film an der Zweiteilung von Stadt und Land, Helfern und Hilfsbedürftigen fest. Aus der Vogelperspektive überblickt die Kamera die Lichter des nächtlichen Kanton, aus der Normalperspektive zeigt sie den Sonnenuntergang im Dorf, wobei Gänse malerisch durch die Dämmerung fliegen. Hier die internationale moderne Metropole, dort das idyllische Dorf, nach dem man sich sehnt.

Dying to Survive ist eine realistische Tragikomödie und unterhaltsamer Mainstream, der zwiespältige Gefühle hinterlässt. Der Film bewegt sich in einer Grauzone zwischen Moral und Gesetz. Das ist genau Cheng Yongs Dilemma. Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an Nebenrollen, die auch nicht perfekt sind. Ein gutherziger Pastor wird in das Schmuggelnetzwerk verwickelt, weil er Kranken in seiner Gemeinde helfen will; eine alleinerziehende Mutter muss in einer Bar tanzen, um die Medizin für ihre Tochter bezahlen zu können; und ein Jugendlicher haut von zu Hause ab und kappt alle Beziehungen, nur um seinen Eltern die astronomischen Summen für seine Behandlung zu ersparen.

Auch wenn die Darstellung der sozialen Realitäten in den Filmen unterschiedlich ist, so erzählen doch beide mit Mitteln des Realismus wahre Begebenheiten nach und landen letztlich bei Heldendarstellungen. Nach dem Tod von Bruder Nan aus Everyday Hero fährt dessen Frau ins Dorf, wo er gelebt hat, um seine Sachen zu holen. Als sie das Haus verlässt, sieht man alle Dorfbewohner in strömendem Regen draußen stehen. Zu einer langsamen Kamerafahrt erklingt das Bruder Nan-Lied. Sein Text preist die Aufopferung für die Ärmsten der Gesellschaft, während die sentimentale Melodie den Zuschauer emotional überwältigt.

Die letzte Szene in Dying to Survive ist im Innern des langsam davonfahrenden Polizeiwagens gefilmt, nachdem Cheng Yong verurteilt wurde. Durch die vergitterten Fenster folgen wir seinem Blick auf die Leukemiepatienten, die die Medikamente aus Indien bekommen haben und alle am Straßenrand stehen. Als der Wagen an ihnen vorbeirollt, nimmt einer nach dem andern seinen Mundschutz ab. Trotz aller Unterschiede ähneln die Filme sich letztendlich. Beide zeigen modellhafte Ausschnitte der Wirklichkeit, beide wollen beim Zuschauer Sympathien erzeugen und ihn so ermuntern, seinen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft zu leisten. Der feste Glaube an den Sozialismus und die harmonische Gesellschaft ist beiden Filmen gemeinsam oder wie Cheng Yong in seinem letzten Satz vor Gericht sagt „Ab heute wird alles besser“.

Chen Yun-hua: Dying to Survive (我不是药神, 2018)und Everyday Hero (南哥, 2017)Zwei wirkliche Geschichten, zwei Formen von filmischem Realismus