Seit nunmehr fast zehn Jahren dreht Gu Tao als unabhängiger Regisseur Dokumentarfilme. Selbst Angehöriger einer Nationalen Minderheit aus dem Norden, sagt er über sich, dass er in den Wäldern gelebt habe und von dort an die Uni in der Stadt und damit in die städtische Zivilisation aufgebrochen sei. Bevor er Dokumentarfilme drehte, tappte er wie viele andere seines Alters im Dunkel, was ihn selbst und die Zukunft betraf. Erst als er seine Herkunft aus den Wäldern begriff, kehrte er zurück und sah die Veränderungen in seiner Heimat: sah, wie seine Eltern und Freunde älter geworden waren, sah wie ihr Lebensraum und die traditionelle Lebensweise verschwand. Das war der Wendepunkt in seinem Leben und gab den Ausschlag, Dokumentarfilme zu drehen.

Gu Tao war stark von seinem Vater beeinflusst, der Maler war. Er malt seit seiner Kindheit und machte eine künstlerische Ausbildung. Später wechselte er zur Fotografie. Er erkannte, dass Malen nur zweidimensional ist und Fotografie lediglich den Augenblick festhalten kann. Also begann er, Dokumentarfilme zu machen, weil er damit am besten die Erinnerungen und Emotionen der Menschen einfangen kann.

Das Malen ist für ihn zu einer Art der Entspannung geworden. In seinen Augen sollte man einfach das malen, wozu man Lust hat. Seine Bilder wie seine Filme haben mit dem Norden zu tun. Sie zeigen die Einsamkeit und Scheu von Rentieren oder hinter Stacheldraht eingepferchte Steppenpferde. Gu Taos Malerei hat also nichts mit dem romantischen Muße-Begriff zu tun, sondern er malt in Zeiten der Muße, um seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf zu lassen.

Ein Gespräch:

Wann haben Sie Zeit zur Muße? Ruhen Sie erst aus, wenn ein Projekt beendet ist? Oder sind Arbeit und Entspannung bei Ihnen miteinander verbunden?

Jetzt mache ich schon seit 10 Jahren Dokumentarfilme. Nach wie vor treffe ich mich mit Freunden, wir trinken etwas und diskutieren dabei über Kunst. Ich denke, ein großer Teil der Chinesen kennt den Begriff der Muße gar nicht, egal, ob sie Künstler oder Angestellte sind. China entwickelt sich in den letzten Jahren immer schneller, und erst allmählich spielen Begriffe wie „Lebensqualität“ und „Muße“ eine Rolle. Diejenigen, die sich Zeit nehmen und Dinge machen, die mit der Arbeit nichts zu tun haben, werden mehr.

Seit ich Dokumentarfilme mache, entspanne ich, wenn ich drehe. Arbeit und Leben sind eins. Der Dokumentarfilm gehört zu meinem Leben, es gibt keine Abgrenzung. Wenn du an einen Drehort kommst, in ein Thema eintauchst, hat das immer mit deinem Leben zu tun. Ich bin seit vielen Jahren ganz entspannt, in körperlicher wie geistiger Hinsicht. Ich habe mich an dieses Leben gewöhnt. Ich lebe mit denen, deren Leben ich filme, zusammen.

Ist das Reisen für Sie ein Mittel, Inspiration und Muße zu finden?

Die Frage ist gut, denn ich habe zum Reisen vielleicht eine andere Ansicht als die meisten Menschen. In meiner Heimatstadt Hulun Buir beispielsweise gibt es ausgedehnte Steppen und Wälder, eine fantastische Landschaft. Touristen finden die Gegend meist schön, aber bei mir geht das tiefer. Denn ich betrachte dieses Stück Erde aus einem humanistischen Blickwinkel und da ist es mehr als nur eine Landschaft. Die Perspektiven sind nicht gleich und daraus ergeben sich unterschiedliche Ausdrucksformen.

Früher bin ich eigentlich kaum gereist, an der Universität war ich dann der Sammler, denn ich war ständig auf der Suche nach neuen Inspirationen. Als ich in der Inneren Mongolei studierte, gab es in der Umgebung ein paar Klöster, einige Dörfer und das wars. Nicht gerade ein Touristenmagnet. Ich aber liebte solche Orte, hier konnte ich viel über das Leben der ansässigen Bevölkerung lernen. Ich denke, das ist die beste Methode, die Menschen zu verstehen. Darum sind mir seit meiner Zeit an der Uni Begriffe wie Genuss und Schönheit fremd geworden.

Vor zwei Jahren bin ich zu den Internationalen Filmfestspielen im Süden Frankreichs gefahren. Der Ort war unglaublich schön: blauer Himmel, grünes Meer und goldener Sandstrand. Die Filmfestspiele dauerten zehn Tage, aber diese Tage vergingen unheimlich langsam. Denn eine Landschaft muss man mit anderen teilen, mit Freunden, mit der Geliebten, erst dann kann man sie erfassen. Hinzu kam, dass diese Landschaft nichts in mir auslöste. Manchmal reicht eben eine Stunde, um genug davon zu haben, die ganze verbleibende Zeit kann man dann nur absitzen – eine Horrorvorstellung. Also habe ich jeden Tag Korallen gesammelt. Ich habe entdeckt, dass sie den Geweihen von Rentieren ähnlich sind. Ich habe also aus den Korallen verschiedenste Geweihformen zusammengesetzt. In dieser Beschäftigung fand ich einen Ausgleich, da sieht man wieder, dass ich irgendetwas machen muss.

Wie soll man Ihrer Meinung nach seine freie Zeit nutzen und herausfinden, was man wirklich will?

Ich denke, um das Leben zu erfassen, muss man viel Lesen. Und außerdem sollte man auf seine innere Stimme hören, um die richtige Ausdrucksform dafür zu finden.

Ich habe mal ein Buch gelesen, das ein Deutscher über Dokumentarfilme geschrieben hat. Darin hieß es, dass unsere Sicht auf die Dinge immer von unserem Wissen und Glauben beeinflusst ist. Aber ich denke, das genügt nicht, wichtiger noch sind Instinkt und Wahrnehmung. Sie schaffen den Unterschied im Zugang zu den Dingen. Wenn wir unser Innerstes verstehen wollen, müssen wir nur intuitiv dem folgen, was uns am brennendsten interessiert. Das ist eine ganz natürliche Fähigkeit.

Gu Tao ist unabhängiger Dokumentarfilmer. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Yu Guo and his Mother (雨果的假期), Aoluguya, Aoluguya ( 敖鲁古雅·敖鲁古雅) und The Last Moose of Aoluguya (犴达罕). Sieben Jahre lang dokumentierte er das Leben ewenkischer Jäger in den Wäldern Nordchinas. Jetzt wendet er sich dem Schicksal der Mongolen in der heutigen Zeit zu. In der mongolischen Steppe zur Sesshaftigkeit gezwungen, können sie nicht mehr mit ihren Viehherden als Nomaden umherziehen. Welche Auswirkungen die moderne Industriegesellschaft auf den natürlichen Lebensraum der Nomaden und ihre angestammte Lebensweise hat, ist sein aktuelles Thema.

Dokumentarfilme machen heißt Leben
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