Es ist still geworden um Xinjiang. Wo? Wie? Da war doch was? Aber es ist weit genug weg, keine neuen geleakten Dokumente mehr, die kurzzeitlich die Presse in Wallung versetzen. In die Stille platzt ein Roman, viel zu leise, aber es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Sein Thema verdient größtmögliche Aufmerksamkeit, es geht um den sogenannten kulturellen Genozid an den Uiguren.

Die Protagonistin Banu kehrt 2017 nach Xinjiang zurück. Sie will mit eigenen Augen sehen, ob die Berichte der westlichen Medien wirklich stimmen, ob nicht alles übertrieben und Propaganda ist. Dann gerät sie in die Mühlen der chinesischen Willkür. Man folgt ihren verschlungenen Wegen, das Buch gewinnt an Spannung, denn Gülnisa Erdal beschreibt den realen Horror durch die Augen dieser nicht einfachen Figur.

Die Autorin, die heute in Berlin und Istanbul lebt, verarbeitet eigene Erlebnisse, fügt fiktive Elemente hinzu und reichert das Ganze mit historischen Fakten an. Gülnisa Erdal lehrt chinesische Sprache und Literatur. Vor 2001 erschienen bereits mehrere Erzählungen von ihr in China. Vorliegender, auf Chinesisch verfasster Roman, ist ihr erstes, von Andreas Guder ins Deutsche übersetzte Buch und in einer bilingualen Ausgabe erschienen.

Schon am Flughafen in Beijing wird Banu wie eine Verbrecherin festgehalten, bis die für sie zuständige Polizeibeamtin aus Ürümqi sie abholt.

Während der folgenden zahlreichen Verhöre erinnert sich Banu an ihre erste Liebe, einen Sportlehrer in Ili, den sie verraten hat, an ihr Leben als Sprachlehrerin in Ürümqi, ihren damaligen Chef, der nach den gewalttätigen Demonstrationen von 2009 hingerichtet wurde, ihre beste Freundin, mit der sie eine WG teilte, und die seitdem verschwunden ist. Banus Anruf bei der Polizei, dass die Uiguren eine Sitzblockade abhalten, war dafür vielleicht nicht ausschlaggebend. Aber sie hat angerufen. Banu ist Uigurin und Parteimitglied, eine Min-Kao-Han, das heißt eine Vertreterin einer nichtchinesischen Ethnie (min), der aufgrund ihrer geprüften (kao) Chinesischkenntnisse (han) Wege in die höhere Bildung des Systems offenstehen.

Immer wieder merkt sie, dass sie zu keiner Seite wirklich gehört. Darin liegt die eigentliche Tragik ihrer Geschichte.

So spannend und zerrissen die Protagonistin ist, wirken einige andere Figuren im Buch doch sehr konstruiert und steif. Das auffällige Interesse der für sie zuständigen Polizistin, die Vergewaltigung durch ihren Mentor an der Uni, der auch noch Chinese ist, instinktiv weiche ich als Leserin zurück. Die Geschichte wird vorhersehbar. Aber Banu spielt mit, versucht Vorteile aus der Situation zu schlagen. Und da ist meine Neugier wieder: Was ist das für eine Frau? Sie ist keine Sympathieträgerin, „sondern eine selbstbewusste, durchaus egozentrische und nicht uneitle Frau, die in riskanten Situationen ausgesprochen kühl, rücksichtslos und berechnend agieren kann“, wie der Übersetzer im Nachwort schreibt. Die Übersetzung ist nah am Original. Ein Lektorat aber hätte dem Buch gut getan. Der deutsche Titel „Banus Erlösung“ klingt mir zu sehr nach Schicksalsergebenheit. Viel mehr geht es um den permanent scheiternden Versuch Banus dazuzugehören, sich selbst zu retten und um die Einlösung eines Versprechens.

Ihrer Freundin Senem versprach sie damals, sich um Nadya, ihre Tochter, zu kümmern. Dieses Versprechen treibt sie an und gibt ihr Kraft. Aber Banu ist auch eine Verräterin, eine Romanfigur wie ein uigurischer Sascha Anderson. Der Preis dafür, dass sie das Land mit der Tochter Senems verlassen kann, ist hoch. Für Banu eine pragmatische Entscheidung, um zu bekommen, was sie will. Sie willigt ein, ihren Freund Matthew in der Türkei zu bespitzeln.

Gülnisa Erdal: Banus Erlösung 巴奴的救赎, aus dem Chin. v. Andreas Guder, Ostasien-Verlag, Reihe Phönixfeder 61, 2022.

„Nur durch Erinnerungen bekommt das Leben einen Sinn, und nur im Schmerz spürt man, das man lebt.“