Die diesjährige Berlinale bot die Chance neben Filmen bekannter Regisseure aus China auch eine neue Regie-Generation zu entdecken und die Zahl 2 hatte sich markant eingeschlichen. Im Wettbewerb liefen zwei Filme chinesischer Regisseure, zwei Filme wurden zurückgezogen, zwei weitere Filme spielten im Grenzbereich zwischen Hongkong und der Volksrepublik und in zwei Filmen kam ein Elvis-Song vor. In der chinesischen Kultur gelten gerade Zahlen als stabil und ausgeglichen. Man sagt, „Gute Dinge kommen in Paaren“ (好事成双 ). Doch nutze man die Zwei mit Weisheit, um nicht das Pech zu verdoppeln.

Aber beginnen wir mit dem Ende: Die zwei Darsteller-Preise gingen an Yong Mei und Wang Jingchun aus Wang Xiaoshuais Film So Long, My Son (地久天长). Man hört, er hatte die besten Chancen auf den goldenen Bären, doch nach Zurückziehung zweier chinesischer Berlinale-Beiträge, war das keine Option mehr. So Long, My Son erzählt die Geschichte von sechs Freunden in den letzten 40 Jahren vor dem Hintergrund von Modernisierung und politischen Kampagnen. Yong Mei und Wang Jingchun spielen ein Paar, dessen Sohn bei einem Badeunfall stirbt. Ein zweites Kind hatten sie aufgrund der Ein-Kind-Politik, die ausgerechnet ihre beste Freundin in der Fabrik durchsetzte, abtreiben müssen. Der als „Ersatz“ adoptierte Junge hält es bei ihnen nicht aus und läuft weg. Durch geschickte Montage von Rückblenden erlebt der Zuschauer Stück für Stück die ganz normale und hochdramatische Geschichte ihres Lebens. Einer der Freunde verschwand für seine Liebe zu Hongkong-Filmen, modischer Kleidung und Musik lange im Gefängnis, man verlor sich aus den Augen, doch die Schicksale waren ineinander verstrickt, vieles blieb unausgesprochen. Es ist ein Film über Erinnerungen und Aufarbeitung oder wie der Regisseur sagte: „Wir müssen Sorge dafür tragen, die Vergangenheit ins Reine zu bringen. In der Vergangenheit liegt die Wurzel für die heutigen Probleme.“ Das erzählt Wang Xiaoshuai ohne special effects und ohne Pathos, denn das Leben ist dramatisch genug. Es ist atemberaubendes episches Kino und passte perfekt zum Festivalmotto „Das Private ist politisch“.

„Unsere Spuren sind ausgelöscht“, sagt die Figur Yong Meis einmal. Aber das ist doch nicht so einfach, wie Wang Quan’an in seinem Wettbewerbsfilm Öndög zeigt. Die mongolische Hirtin bekommt von ihrem Verehrer ein Öndög, ein Dinosaurier-Ei geschenkt und vielleicht fänden die Dinosaurier in 100000 Jahren ja auch menschliche Öndögs. Aber das sei nicht sehr wahrscheinlich, denn in vielen westlichen Ländern würden die Menschen eingeäschert. Wang Quan’an, dessen Filme fast alle auf der Berlinale zu sehen waren, zeigt wieder einmal eine starke und eigensinnige Frau. Außerdem war Öndög der Film mit der schönsten Anfangssequenz: Eine nächtliche Jeepfahrt durch die Steppe: im Off unterhalten sich zwei Männer über die Jagd und Rennpferde, abwechselnd sieht man das Auto mit dem von den Scheinwerfern beleuchteten Grasland. Dann plötzlich liegt ein lebloser nackter Frauenkörper im Lichtkegel: Vorspann. Am nächsten Morgen ist auch die Polizei eingetroffen, ihr Auto hat eine Panne und sie trauen sich nicht in die Nähe der Leiche, denn da ist eine Wölfin. Gewehre haben sie nicht und im Umkreis von 100 Kilometern wohnt niemand, außer einer Hirtin. Majestätisch langsam trabt sie auf ihrem Kamel ins Bild und vertreibt den Wolf mit einem Schreckschuss aus ihrem alten Gewehr. Bei der Leiche lassen die Kollegen einen Jungpolizisten mit den Worten zurück, es werde nachts kalt und er solle nicht erfrieren. Um sich warm zu halten hüpft er zur Musik aus seinem Handy. Das ist die Gelegenheit für den ersten Elvis Presley-Song, der weder in die Landschaft, noch zur Situation passen will. Die Hirtin wird dem jungen Polizisten zu essen bringen, ihn wärmen und verführen. Es ist dieser lakonische Humor, der den Film durchzieht. Es gibt keine besonderen Probleme, von der Leiche mal abgesehen. Ein Kälbchen wird geboren, ein Lamm geschlachtet, Frau wird schwanger. Am Ende des Films finden der langjährige Liebhaber und die Hirtin endlich zueinander, Lichter tanzen in der Jurte, betörend wie die Eingangssequenz. Das ist Sex mit Stirnlampen, auf dass sie noch mehr Öndögs machen. Die Innenaufnahmen waren eine der größten Herausforderungen für den Kameramann Aymerick Pilarski, denn wie man sich denken kann, sind in einer Jurte gar nicht so viele Steckdosen vorhanden. Die zweite Protagonistin, neben der Hirtin, ist die weite leere Landschaft, gelbe Steppe und blauer Himmel in Cinemascope. Ganz kurz kommen längst vergangene Bilder aus Gelbe Erde in den Sinn. Öndög ist eine mongolische Produktion. Vielleicht ersparte sich Wang Quan’an damit, was Lou Ye die langwierigste und größte Herausforderung seines Lebens nannte. Zwei Jahre habe es gebraucht, den Film durch die Zensur zu bringen. Seine Haltung gegenüber der Zensur habe sich nicht geändert. The Shadow Play (风中有一朵雨做的云)von Lou Ye lief im Panorama und ist ein Thriller um Bauskandale und Korruption. Es ist auch der zweite Film, der mit dem Fund einer Leiche beginnt. Dem folgen zwei Stunden extreme Nahaufnahmen in spärlich beleuchteten Innenräumen und brutale Handgemenge. Die schnelle, nichtchronologische Montage ist am Anfang verwirrend, helfen doch auch die zu langen Untertitel nicht viel. Das erinnerte ein bisschen an PTU von Johnny To. Es geht um den Abriss eines städtischen Dorfes und den Widerstand dagegen, dann ist der Direktor der Baukommission tot. Hatte der in Taiwan reich gewordene Immobilienunternehmer damit zu tun? Der junge ermittelnde Polizist, tappt in eine Sexfalle, wird suspendiert, ermittelt auf eigene Faust weiter. Lou Ye wirft einen Blick in die Abgründe der heute Erfolgreichen, das Gewirr der Beziehungen und Vertuschungen schließlich dramaturgisch meisterhaft entwirrend. Auch für diesen Film gilt der Satz von Wang Xiaoshuai: Die Probleme der Gegenwart haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Lou Yes Filme wollen nicht provozieren, doch – so der Regisseur auf der Pressekonferenz, der Film müsse frei sein.

Wie eine Meditation zu diesem Thema war Cao Feis Prison Architect. Das Forum Expanded als Raum für mediale Grenzüberschreitungen, zeigte den schon durch seine Länge von 59 Minuten aus dem üblichen Kinoformat fallenden Beitrag der Künstlerin, die sonst eher Galerien und Museen bespielt. Der Film, ein Auftragswerk von Tai Kwun Contemporary beschäftigt sich mit dem Victoria Prison in Hongkong, was nach zehnjähriger Umbauzeit im vergangenen Jahr als Tai Kwun Center for Heritage and Art eröffnet wurde. Die zwei Handlungsstränge einer Architektin und eines Häftlings treten in einen Zeit und Raum überschreitenden Dialog über die Idee von Gefangenschaft. „Wie [leben] wir mit der Idee der „Inhaftierung“, mit Inhaftierung in einer physischen Zelle, Gefängnissen, die vorgeben, keine zu sein …“ Die Art und Weise, wie sich Cao Fei des Films bedient, bildet auch eine Brücke zu einer jüngeren Regiegeneration, die das Forumsmotto „Risiko statt Perfektion“ spiegelten. Der Zuschauer konnte die behaupteten formalen Experimente vielleicht nicht immer erkennen, wie im Falle von Zhu Xins Vanishing Days (漫游). Hier wurde die Grenze zwischen Realität, Erinnerung und Phantasie bis zur Unkenntlichkeit verwischt, sodass der Film statt mysteriös nur ärgerlich ist. Eher schwer zugänglich blieben auch die Breathless Animals des mittlerweile am California Institute of the Arts arbeitenden Lei Lei. Hier erzählt eine Frau im Off von ihrer Jugend von der Kulturrevolution bis in die 80er Jahre, vom ersten Fernseher, ihrem schlimmsten Traum, der Mutter, die am anderen Ende der Stadt arbeitet und abends Maoschriften büffeln musste, so dass die Kinder sich selbst überlassen waren. Dazu gibt es alte Fotos, mal schneller und mal langsamer montiert, Filmaufnahmen in einer Endlosschleife ruckelnd, das Geräusch des Projektors immer präsent. Wir sehen Häuserfassaden, Möbel, Radfahrer. Als Zuschauer entwickelt man wenig Empathie mit diesem Schicksal, abgesehen davon, dass der Bruder der Erzählerin denunziert und aufs Land geschickt wurde. Das ist kein Dokumentarfilm im herkömmlichen, auf Erkenntnisgewinn fokussierten Sinn, sondern eine Neu-Interpretation von Zeitzeugnissen.

A Dog Barking at the Moon kündigte seine Regisseurin als einen der seltenen Filme an, die intertextuelles editing anwenden und mir schwante schon, dass es einmal mehr ein Film ist, der die Zeitebenen miteinander verschachtelt. Das scheint gerade angesagt zu sein. Xiang Zi, die mit ihrem Ehemann, Produzenten und Kameramann in Spanien lebt, beschreibt eine sehr persönliche Geschichte. Der Titel für ihr Plädoyer, endlich miteinander zu reden, ist von gleichnamigem Miró-Bild inspiriert. Im Film entdeckt eine Frau, dass ihr Ehemann homosexuell ist und macht alle anderen für ihr Unglück und ihre Unfähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, verantwortlich. Sie flüchtet in den Buddhismus, den ihre Tochter hellsichtig als Sekte enttarnt und der Polizei meldet. Falungong lässt grüßen. Die zweite Hälfte zieht sich leider wie Kaugummi, weil es keine Figurenentwicklung und keine Wendungen der Handlung gibt. Gekonntes Editing, intertextuell oder nicht, hätte dem Film zu einem gelungenen Kurzfilm verhelfen können.

Bai Xues Debut The Crossing (过春天) spielt an der Grenze zwischen Hongkong und Shenzhen. Die 16jährige Peipei lebt bei ihrer Mutter in Shenzhen, besucht jedoch die Schule in Hongkong, wo auch ihr Vater lebt. Die Eltern haben keine Zeit für sie, mit ihrer besten Freundin träumt sie davon, einmal den Schnee in Japan zu sehen. Was ihr fehlt, ist das Geld. Täglich überquert sie in ihrer Schuluniform die Grenze und mit brandneuen iPhones im Gepäck, wagt Peipei den riskanten Übergang in die Eigenständigkeit. Seine Premiere erlebte der Film in Toronto, dann heimste er auf dem Pingyao-Festival gleich zwei Preise ein, bleibt zu hoffen, dass er es vielleicht in die Kinos hierzulande schafft.

Ein zweiter Film, der die kulturelle Vielfalt des Riesenreiches jenseits der Metropolen betonte, war das Langfilmdebut A first Farewell (第一次的离别)von Wang Lina. Aisa ist erst 11, aber er hilft bei der Arbeit mit, kümmert sich liebevoll um die kranke Mutter und um ein Lämmchen, dass seiner Freundin gehört. Als eines Tages die Mutter verschwunden ist, ist das eine Katastrophe. Und Aisa ist schuld, denn er hätte besser aufpassen müssen. In einfachen Bildern fängt die Kamera die Schönheit des ländlichen Xinjiang ein: das Pappelwäldchen in der Wüste, kleine Baumwollfelder, karge, weit verstreute Behausungen und die Schule, die den Kindern eine bessere Zukunft eröffnen soll. Aber dazu müssen sie fleißig sein und vor allem Mandarin sprechen. Deshalb wird Aisas Freundin auf eine bessere Schule, weit weg geschickt. Aisas Vater gibt die Mutter in ein Heim, da ihm die Last zu groß ist, Aisas großer Bruder studiert in der Stadt – und das Lämmchen? Aisa bleibt allein zurück. A First Farewell ist ein ans Herz gehender poetischer Film aus einer fernen Welt, jenseits der Welt, die den meisten Zuschauern geläufig sein dürfte. Um so stärker ist das Gefühl hier eine bedrohte Lebensform zu sehen. Alle Darsteller sind Laien und sprechen uighurisch miteinander, weil es die Sprache ist, in und mit der sie leben. Wang Lina wuchs selbst als Han-Chinesisin in Xinjiang auf und widmete den Film ihrer Heimatstadt Shaya/Xayar, einer Oase in der Taklamakan-Wüste. Sie erzählt ihre Geschichte aus Perspektive eines Kindes, weil Kinder freier und intuitiver handeln, sie beschreiben weniger die Welt, als dass sie sie entdecken. Auf dem Filmfestival Tokio erhielt der Film bereits den Best Asian Future Film Award und nun kam noch der Große Preis der Internationalen Jury von Generation Kplus hinzu.

Eine verschwindende Lebensform zeigten auch Ivan Markovich und Wu Lingfeng in From Tomorrow on, I Will (春暖花开). Der chinesische Titel ist die letzte, der englische die erste Zeile eines Haizi-Gedichts. Der Film fühlt sich wie ein Kommentar zur Kampagne „Unsere Stadt soll schöner werden“ an. Der Nachtwächter Li teilt sich mit einem Freund eine Kellerwohnung. Er sieht und hört die laute die Stadt nur auf seinem abendlichen Weg zur Arbeit und dem Heimweg am Morgen. Er ist eine der Randexistenzen, die die Stadt am Laufen halten. Die Kellerwohnung muss einem Bauprojekt weichen, der Freund will die Stadt verlassen, Li wurde drei Wochen nicht bezahlt, er kauft ein letztes Hemd, schläft im Park. Es ist der Abstieg vom Traum des Aufstiegs. Die Stadt soll sauberer werden. Lange Kameraeinstellungen einer unwirtlichen Umgebung verstärken das Gefühl, nur am Rand des Lebens zu stehen. Dennoch endet der Film mit einem optimistischen Bild: Eine Gruppe von Menschen, alle blicken erwartungsvoll in eine Richtung. Das Bild bricht aber auch mit dem sonst eher dokumentarischen Stil. Aufbruch? Es bleibt spannend, denn es gibt sie zahlreich, die kleinen, persönlichen Filme jenseits der Blockbuster, die die chinesischen Leinwände füllen. Gemeinsam ist vielen der Filme, abgesehen von einem unserer eigenen zeitlichen Wahrnehmung geschuldeten achronischen, von Rückblenden unterbrochenen Erzählen, das Erinnerungsmoment. Aus der Warte des Filmfestivals können wir gespannt sein, wie der Aufbruch eines neuen Festivalteams für Berlin 2020 in Sachen China aussieht: Für viele chinesische Regisseure ist Berlin nur die 2. Wahl und die Filmauswahl auf Zweitverwertung beschränkt. Da ist sie wieder, die Zahl 2.

Und der zweite Elvis-Song? In Prison Architect lief, na was schon? Jailhouse Rock.

in: Konfuzius Institut Magazin 2/2019

Politik, Erinnerung und Zahlen-Mystik (Berlinale 2019)