THE-GRANDMASTER-Image-01Es war eigentlich keine besonders „chinesische Berlinale“, wäre da nicht dieser Jurypräsident zum Niederknien: Wong Kar-Wai mit seinem Markenzeichen, der dunklen Sonnenbrille. Mit dem ihm eigenen Charme und östlichem Understatement, erklärte er während der Bärenverleihung, die Jury sei nicht dazu da, Filme zu beurteilen oder zu kritisieren, sondern die Filme, die sie mag zu unterstützen. Aber Wong Kar-Wai war nicht nur Jurypräsident, er brachte auch den diesjährigen Eröffnungsfilm mit und präsentierte mit seiner Produktionsfirma Jet Tone Films den Film „Touch of the Light“ (逆光飞翔)von Chang Jung-Chih. Ich gebe zu, als ich die kurze Inhaltsangabe im Programmheft las, nämlich dass es um den blinden Musiker Huang Yu-Hsiang, der sich selbst spielt, geht, habe ich überlegt, ob ich mir das antun muss. Aber es wurde kein sentimentales Rührstück, sondern ein Film, der mich als Zuschauer relativ kalt ließ. Musikalisch hochbegabt, geht Yu-Hsiang nach Taipeh, um dort Musik zu studieren. Der Zuschauer erlebt seine ersten mühsamen Schritte, wenn er sich in der neuen, fremden Umgebung zurechtfinden muss. Dabei hilft ihm seine Mutter, die ihn die ersten Tage liebevoll begleitet. Wie reagiert seine Umgebung auf ihn, die Kommilitonen und Lehrer, denn er ist der erste blinde Student am College. Yu-Hsiang will es allein schaffen. Die Begegnung mit der jungen Getränkeverkäuferin, die Tänzerin werden möchte, wird zur gegenseitigen Inspiration. Nein, es gibt zum Glück keine Liebesgeschichte zwischen den beiden, es ist eine Begegnung verwandter Seelen, eine herzerwärmende Geschichte darüber, wie wichtig es im Leben ist, seine Träume zu leben. Verschiedene Nebenrollen sorgen immer wieder für die nötige Distanz zur Geschichte und die erste Begegnung zwischen den Protagonisten gibt es auch erst in der Mitte des Films. Darüber hinaus findet Dylan Doyles Kamera schöne Bilder, die körnig genug bleiben, um die Geschichte nicht in Sirup zu tauchen. Dies ist der erste Spielfilm von Chang Jung-Chih und die diesjährige Oskareinreichung Taiwans.

Der Meister selbst durfte die diesjährige Berlinale mit „The Grandmaster“ (一代宗师)eröffnen。Für ein wenig Verwirrung sorgte der englische Titel, dem offenbar auf dem langen Weg hierher ein S abhanden kam, das in einer früheren Titelversion noch vorhanden war. Es geht um die Zeit der Großmeister, die 1930er und 1940er Jahre, als es verschiedene Kung-Fu-Stile und Schulen gab, die miteinander wetteiferten. Einer von ihnen war Ip Man, an dessen Leben sich das Kung-Fu-Epos orientiert. Aber nicht jeder, so Wong Kar-Wai zur Erklärung des abhanden gekommenen S, habe diesen Titel verdient und außerdem gehe es schließlich mehr um eine Geisteshaltung, um die Philosophie des Kung-Fu. Es geht um die Weitergabe von Tradition und in diesem und anderen Filmen nicht zuletzt auch um das sich Vergewissern einer eigenen Tradition. Film ist ein aus dem Westen importiertes Medium, was schnell adaptiert wurde. Aber mit der wachsenden Bedeutung des chinesischen Marktes wächst auch die Tendenz zur Abgrenzung vom Weltkino, der Besinnung auf eigene Größe.
Wong Kar-Wai hat wieder einmal lange mit dem Stoff gerungen und an dessen Umsetzung gearbeitet. Bereits 2008 geriet er mit den Produzenten von Wilson Yips Ip Man-Film in einen Rechtsstreit, weil deren ursprünglicher Titel „The Grandmaster Ip Man“ zu nahe an seinem Arbeitstitel war. Sie lenkten ein und nannten den Film und seine Sequels einfach „Ip Man“. 2013 kam endlich Wong Kar-Wais Film heraus und es ist der 4. Ip Man-Film innerhalb von sechs Jahren, der damit auf die Leinwand kam.
Wir haben es nicht mit einem klassischen Kungfu-Streifen zu tun, Wong Kar-Wai versucht nichts weniger als das Genre zu erneuern. Aber vorweg: es ist der schwächste Film von Wong Kar-Wai. Das liegt an der unerträglichen Musik von Shigeru Umebayashi, die zu den gleichmütig ablaufenden Bildern „Drama“ schreit, das liegt an der werbegeschulten Kamera von Philippe Le Sourd und das liegt nicht zuletzt an der Hauptdarstellerin Zhang Ziyi, die schön ist, nur eins kann sie nicht, spielen. Es geht in „The Grandmaster“ um Kung-Fu als die Essenz chinesischer Tradtion. Nicht Machtstreben oder Rache machen den Grandmaster, im Gegenteil: Figuren, die davon besessen sind wie der Kollaborateur Ma San (Zhang Jin), aber auch Gong Er (Zhang Ziyi), die ihren Vater rächt, sind schließlich zum Untergang verurteilt. Ip Man geht es nicht ums Gewinnen oder Verlieren. Seine Kämpfe sind scheinbar beiläufig ausgetragene Exerzisen, durch Zeitlupen verfremdet, zerschnittene Bewegungen neu zusammengesetzt, so als wolle Wong Kar-Wai mit dieser Dekonstruktion das Wesen erfassen. Und für das Auge des Zuschauers findet der Kampf schon mal in strömendem Regen statt, weil Wasser in Zeitlupe so ästhetisch spritzt. Am Ende setzt der Mann mit dem weißen Hut seinen Weg fort. Die Kung-Fu-Szenen, von Altmeister Yuen Woo-Ping choreografiert, sind enttäuschend. Da fliegt in jedem Kampf erneut ein Bösewicht durch eine Scheibe, so als wäre ihm nichts weiter eingefallen.

Ip Man (Tony Leung Chiu Wai) ist kontrolliert, hat auch keine erkennbaren Schwächen, ist nicht gefährdet durch Hybris. Es fehlt nach unserem Verständnis ein dramatischer Motor, ein Höhepunkt auf den alles zusteuert. Der Zuschauer erlebt ein Drama verdeckter Gefühle, sieht das Leben von Ip Man vor historischem Hintergrund ausgebreitet, bekommt aus dem Off Fakten zur Erklärung geliefert, alles in allem eine sehr chinesische Erzählweise.
Da verwundert es dann umso mehr zu erfahren, dass Wong Kar-Wai verschiedene Fassungen für den europäischen und den asiatischen Markt vorgelegt hat. Seine Berlin-Version ist 10 Minuten kürzer als die chinesische, soll aber mehr auf die Verständlichkeit der Geschichte fokussieren. So wurden einige Nebenhandlungen und Erklärungen des geschichtlichen Hintergrunds, die für den Fortgang der Handlung unwichtig sind, weggelassen. Aber andere Szenen als Erklärung auch eingefügt: Zum Beispiel die Geschichte von Yi Xiantian – The Blade (Chang Chen) und Gong Er. Während des Krieges hatte sie den Fremden im Zug gerettet und ihre erneute Begegnung ist für ihn Grund, in Hongkong zu bleiben.
War schon die europäische Fassung dramaturgisch schwierig, weil Nebenhandlungen und Zeitsprünge nicht leicht zu verfolgen waren, so scheint dem großen Erfolg in China die vermeintlich verwirrendere Fassung nichts anhaben zu können.

Frank Sieren merkte während der Berlinale im Handelsblatt an, dass der Kulturstrom längst nicht mehr nur von West nach Ost fließe und dass mit ihm auch Werte transportiert würden. Da lohnt es schon genauer auf die Filme zu schauen. Worin bestehen die cinematografischen Werte, wie sie sich in den gezeigten chinesischen Filmen widerspiegeln? Es sind die des seichten Mainstream, Geschichten, die beachtenswert, aber nicht verstörend sind.
Viele Filme sind sich nahezu ähnlich, kreisen um Familie und Selbsverwirklichung. Dabei bleiben sie ihren Protagonisten sehr nahe und das schlägt sich wiederum in der Filmsprache nieder: immer wieder sieht man Gesichter in Nahaufnahmen. Die große Frage ist die nach dem Glück, wie kann ich mein Leben gestalten zwischen dem Druck gesellschaftlicher Normen und eigenem Glücksanspruch. Die Frage könnte man auch auf die chinesischen Filmemacher übertragen. Wie viele von ihnen machen wirklich ihre ureigenen Filme, verfolgen ihre Ideen kompromisslos? Der Trend der letzten Jahre setzt sich fort, aus China kommt nicht viel und was wir sehen ist gefangen in der Mainstreamfalle. Kino auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, gefällig. Die Filme fesseln nicht, sind im besten Fall interessant. Es sind nur noch wenige Filmemacher, die ihr Ding machen, bewusst auch neben dem Markt. Das zeigten „Yumen“ und auch „Mosheng“.

Hsu Chao-jens „Tian mimi – Süßes Geheimnis“ (甜秘密) heißt nur noch „Together“. Alle sind irgendwie verliebt in Taipeh, verlassen oder verletzen sich. Nur der siebzehn-jährige Xiao Yang scheint nicht infiziert, ist Beobachter und greift ein, wenn zum Beispiel seine Schwester sitzengelassen wird. Das ist nett anzuschauen, aber für ein Filmfestival und dazu noch eines der Kategorie A zu mager. Und dann war da noch Arvin Chen, also einmal kein Debut-Film. Sein Film „Au revoir Taipeh“ war 2010 der heimliche Publikumsliebling der Berlinale, ein beschwingter, witziger und melancholischer Film. In diesem Jahr war der amerikanisch-taiwanische Regisseur im Panorama mit „Will you still love me tomorrow?“ zu Gast. Das Lied singt in der Mitte des Films Ah Feng hoffnungslos betrunken. Den in sie verliebten Teamleader ignoriert sie, wie so vieles im Leben, bis es nicht mehr geht. Ihr Ehemann Weichung erinnert sich an sein früheres schwules Leben. Was ist Glück? fragt Ah Feng die Wahrsagerin. Sie hat wie viele andere nicht darüber nachgedacht, sondern sich bemüht, einer gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Dafür steht exemplarisch der von ihren Eltern aufgebaute Druck. Aber das kann man in jeder Fernsehsoap sehen. Arvin Chen hat durchaus witzige Regieeinfälle, die Gefühle der Protagonisten in Bilder umzusetzen. So schweben, fliegen Menschen oder ein Bus voller junger Männer starrt wie auf Kommando Weichung an. Immer wieder geht es um die Schwierigkeit sein Leben zu führen und dabei glücklich zu sein, ohne ausgetretene Pfade zu betreten und eben die Unfähigkeit dazu. Das ist nett, ein bisschen vorhersehbar und bisweilen zu ausführlich erzählt.

Der chinesische Markt ist nicht zu unterschätzen, allein wegen seiner Größe. Und Filme wollen wenigstens einen Teil ihrer Kosten wieder einspielen. Natürlich wollen die Filmemacher auch im eigenen Land reüssieren und anerkannt werden. Entweder die Regisseure gehen die dafür nötigen Kompromisse ein oder sie drehen nicht, weil sie nicht ihre Ideen gegen die Zensur durchetzen können. Und dabei geht es gar nicht vordergründig um politische Zensur. Ehemalige Symbolfiguren des chinesischen Untergrunds wurden eingefangen, indem gegen sie bestehende Arbeitsverbote vorzeitig aufgehoben und ihnen keine Schwierigkeiten seitens der Zensurbehörden gemacht wurden. Das muss aber nicht heißen, dass es so bleiben wird. Ihre Stimmen sind immer weniger vernehmbar. Jia Zhangke verlegt sich mehr und mehr aufs Produzieren mit seiner 2003 gegründeten Firma Xstream-Pictures. So förderte er den Debutfilm der bislang als Autorin bekannten Quan Ling: „Forgetting to know you“ (陌生). Sein langjähriger Kameramann und Mitstreiter bei Xstream-Pictures Yu Lik-Wai übernahm hier auch die Bildarbeit. Seine Kamera beobachtet Chen Xuesong (Tao Hong) wie sie scheinbar halbverschlafen durchs Leben wandelt. In einer Kleinstadt unweit Chongqing führt sie einen Kiosk, sie ist verheiratet und hat eine Tochter. Ihr Mann hat keine Arbeit mehr, da die Möbelfabrik, in der er arbeitete, zugemacht hat. Die beiden leben nebeneinander her und können doch ohne einander nicht sein. Aber die ständigen Verdächtigungen, Vorwürfe, das schwindende Vertrauen zermürben. Er verdächtigt seine Frau des Seitensprungs und vergewaltigt sie zur Strafe. Als seine Schwester sagt, das Kind sehe ihm nicht ähnlich, lässt er einen Vaterschaftstest machen. Chen Xuesong geht nicht weg. Selbst als der in sie sehr verliebte Taxifahrer Wu sie dazu auffordert. Sie kann nicht, sagt sie. Man sieht, wie zwei Menschen mit Ecken und Kanten sich durchs Leben kämpfen. Chen Xuesong besorgt ihrem Mann schließlich das Startkapital für eine neue Firma. Dann will sie sich scheiden lassen, er nicht, Ende. Man sieht den beiden zu. Man möchte sie schütteln und kann doch nichts tun. Ein unsentimentaler Film über keine leicht zugänglichen oder sympathischen Charaktere. Aber gerade dieses Widerständige hebt den Film aus den anderen heraus.
Im wahrsten und für mich positiven Sinne herausfallen tut der Film „Yumen“ (玉门), den ich ein Doku-Experiment nennen würde. Es geht um den realen Ort Yumen, über den man nicht viel mehr erfährt, als was die Bilder verraten. Yumen war das am frühesten erschlossene Ölfeld Chinas, jetzt ist es eine untergehende Stadt. 2004 wurde die Förderung eingestellt, es bleibt die Industrieruine. Hier lebten einmal 20000 Menschen. Jetzt sehen wir eine untergehende Stadt. Lange Kameraeinstellungen tasten die Gegend ab, wir sehen drei realen Einwohnerinnen beim Durchstreifen des Geländes zu. Für die zwei jungen Mädchen war oder ist diese Stadt noch immer Heimat. Und eine Frau in mittleren Jahren, die jetzt dort mit ihren Tieren lebt, kannte Yumen noch als sozialistische Industriestadt. Jetzt macht sich nur Trostlosigkeit breit. Zwei Geister betreten die Szene, der eine, Erscheinung des sozialistischen Öl-Arbeiters versucht durch Erinnerungen Besitz zu ergreifen. Der andere, ein Maler, eignet sich mittels seiner Kunst die Umgebung an. Alte Photos werden zu Wandbildern, Graffitys beginnen die Ruinen zu bevölkern. Sparsame Off-Kommentare begleiten die Bilder, ab und zu Projektorengeräusche. Hier muss ich einfügen, dass es ein großes Minus für den Chinesisch und allzu aufdringlich nachsynchronisierten Ton gibt.
Die Geister sind zwei der Regisseure: Huang Xiang, der Arbeiter, im wirklichen Leben Performer und Xu Ruotao, der Maler, der er auch tatsächlich ist. Zusammen mit JP Sniadecki, einem amerikanischen Filmemacher und Doktorand in Medienanthropologie realisierten sie diesen Film. Die drei trafen sich in den Beijinger Filmzirkeln und mochten die Arbeiten des jeweils anderen, was sie als ein gutes Omen zur Zusammenarbeit nahmen. Mit ihrer Kunst nähern sich die drei von heute aus behutsam der Stadt. Noch eine dritte Ebene und Verbindung zum Heute scheint auf, wenn man weiß, dass der Film auf 16 mm gedreht wurde: eine untergehende Technik und eine untergehende Stadt: entstanden ist ein Film an der Schnittstelle von Kunst, Kino und Ethnografie.

Viel Mainstream, wenig Experiment (Berlinale 2013)
Markiert in: