Nie Er & Tian Han

Die chinesische Nationalhymne? – Filmmusik! Ja, wirklich! Der „Marsch der Freiwilligen“ (义勇军进行曲) ist der Titelsong des 1934 gedrehten Films „Söhne und Töchter im Sturm“(风云儿女). Der Text stammt von Tian Han, die Komposition von Nie Er. Es war der zweite Film der kommunistisch orientierten Diantong-Filmgesellschaft (Denton). Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit von Tian Han mit dem Komponisten Nie Er für den „Abschluss-Song“ (毕业歌) beim ersten Film des Studios, „Plunder of Peach and Plum“ (桃李劫), schrieb Tian Han nun die Gedichte für die Hauptfigur des Films, den Poeten Xin Baihua. Der Film erzählt, wie Xin Baihua seinen allein der Kunst gewidmeten, eher westlichen Lebensstil aufgibt, um sich dem nationalen Wiederstandskampf anzuschließen. Kaum war die Arbeit am Buch beendet, wurde Tian Han verhaftet. Das Lied „Marsch der Freiwilligen“ sollte der letzte Teil des Langgedichtes „Die Große Mauer“ des von Yuan Muzhi gespielten Poeten aus dem Film werden. Freunde entdeckten das Gedicht „Marsch der Freiwilligen“ nach Tian Hans Verhaftung in einem Manuskriptstapel auf seinem Schreibtisch. Sun Shiyi erinnert sich: „Das Lied war nicht im Drehbuch, er hatte es auf Stanniolpapier, das Innenfutter aus einer Zigarettenschachtel, notiert, darüber war Tee gegossen und die Zeichen waren verschwommen. Zeichen für Zeichen mussten wir erraten, um es wiederherzustellen.“1

Die Szene, da dem Komponisten Nie Er das Zigarettenpapier überreicht wird, findet sich auch in dem 1959 gedrehten Biopic „Nie Er“ wieder.

Nie Er, 1912 als Nie Shouxin in Kunming geboren, erlernte schon als Kind verschiedene traditionelle Instrumente. Der 1959 ihm zu Ehren gedrehte Film zeigt den Werdegang des musikalisch begabten jungen Mannes aus einfachen Verhältnissen, der sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und imperialistische Agressoren anschloss. Der Film endet mit der Komposition einer chinesischen Marseillaise, des „Marsches der Freiwilligen“.

Die Premiere des Films und „Söhne und Töchter im Sturm“ am 24. Mai 1935 im Lyric Theatre (金城大戏院) erlebte er nicht mit. Um einer möglichen Verhaftung zu entgehen, verließ Nie Er am 15. April 1935 Shanghai und fuhr nach Japan2, wo er mit nur 23 Jahren im Juli 1935 ertrank.

Bis heute sind verschiedene Legenden über seinen Tod in Umlauf. Nie Ers Zusammenarbeit mit der kommunistischen Kunst- und Kulturszene war kein Geheimnis. Um nicht das Schicksal Tian Hans zu teilen, sollte er über Japan in die Sowjetunion gehen. In der heroischen Version verfolgten die Feinde ihn bis nach Japan und trieben ihn bei einem Badeausflug in den Tod. Andere Quellen besagen, dass er seinen Bruder in Japan besuchte. Als er mit Freunden in Japan baden ging, ertrank er unter ungeklärten Umständen. Ein solcher Tod erschien den Machthabern des neuen China zu unheroisch.

Zheng Junli & Huang Shaofen bei den Dreharbeiten 1959

Nie Ers Flucht aus Shanghai und die Umstände seines Todes sparte der Film aus dem Jahr 1959 lieber aus. Große Teile der Filmcrew kannten Nie Er noch aus eigenem Erleben: Tian Han und Xia Yan, die gemeinsam mit Nie Er am Film „Söhne und Töchter im Sturm“ gearbeitet und das Drehbuch geschrieben hatten, waren im neuen China mit wichtigen kulturpolitischen Posten betraut. Die Regie übernahm Zheng Junli (1911-1969), der vor dem Krieg vor allem als Schauspieler bekannt war. Möglicherweise versuchten sie ihre Idee des revolutionären Realismus gegen eine zunehmend schwarz-weiße Auffassung des sozialistischen Realismus zu setzen. Die Hauptrolle des Nie Er übernahm Zhao Dan (1915-1980), einer der Stars des chinesischen Kinos der späten 1930er und 40er Jahre. Als Mittvierziger spielte er nun die Hauptrolle des 19 – 23-jährigen Nie Er. Der Kameramann Huang Shaofen (1911-1997), ebenfalls bekannt für seine Arbeiten während des sogenannten goldenen Zeitalters des Shanghai-Films, erinnert sich: „Es gab eine Szene, in der Nie Er von seiner Freundin Zheng Lei in einer Pagode Abschied nimmt. Anfangs wollte ich eine lange Einstellung drehen, um die Tiefe ihrer Gefühle und den Trennungsschmerz auszudrücken. Ich wollte die Kamera auf einen Wagen stellen und damit den Schauspielern folgen, indem die Kamera die Pagode umrundet. Aber nach einiger Überlegung wurde uns klar, dass sie sich trennen, um am revolutionären Kampf teilzunehmen und wir nicht zu sehr ihre Gefühle betonen sollten, um nicht die revolutionäre Begeisterung zu beschneiden […]“3 Trotz der Rettungsversuche bleiben in erster Linie begeisterte, kämpferisch nach vorn blickende Gesichter der Darsteller in Naheinstellungen im Gedächnis haften.

Das Lied „Marsch der Freiwilligen“ aber machte den Film „Söhne und Töchter im Sturm“ populär und wurde zur Hymne des antijapanischen Widerstandskampfes. 1949 wurde der „Marsch der Freiwilligen“ schließlich zur Nationalhymne der neuen Volksrepublik.

1田汉: 影事追怀录, 北京1983, S.45.

2 Joshua H. Howard: Composing for the Revolution, Honolulu 2021, S. 132.

3 Plan d’ensemble, plan moyen, plan rapproché, l’éternelle ritournelle …, Interview du chef opérateur Huang Shaofen, in: Le cinéma chinois, Paris 1985, S.103.

Nie Er und die chinesische Nationalhymne