„So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ (Rilke) Mit diesen Worten beginnen die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und auch die Dokumentation von Evans Chan über Qiu Miaojin (Chiu Miao-Chin 邱妙津) . Ihre Aufzeichnungen eines Krokodils sind 1994 erschienen. Dann ging sie nach Paris, um zu studieren und um zu leben.

Nun erschienen die Aufzeichnungen eines Krokodils auf Deutsch im Ulrike Helmer-Verlag. Das Kultbuch der neunziger Jahre ist das Debut einer Schriftstellerin, die vom weltweiten Erfolg und dem Nachleben ihres Buches nichts weiß, da sie sich 1995 mit nur 26 Jahren in Paris erdolchte. Es ist wohl deshalb das Schicksal und zugleich ein Bonus des Buches, von diesem Ende her gelesen zu werden.

Auch die Aufzeichnungen eines Krokodils beginnen mit dem Ende. Die Ich-Erzählerin, die erst später den Namen Lazi bekommt, hält ihr Abschlusszeugnis der Uni in Händen und reflektiert dann ihre Studienzeit 1987 bis 91. In acht Notizbüchern hat sie Gefühle, Begegnungen und Träume festgehalten. Sie sucht einen Platz im Leben, sucht eine Sprache. Klar ist seit der ersten Seite: sie will schreiben. Mit Aplomb steckt sie das Terrain ab: Da schauen ihr Osamu Dazai, Haruki Murakami und Yukio Mishima über die Schulter, ein Krokodil will was zum Spielen haben und sie legt los, denn „es geht darum, einen Abschluss zu kriegen und zu schreiben“.

Dieser surrealistische Auftakt wechselt mit Schilderungen ihrer Universitätsjahre, dem Ringen mit sich und der Umwelt, zu ihren Gefühlen zu stehen. „Ich bin eine Frau, die sich in Frauen verliebt“ sagt die noch namenlose Lazi am Anfang des Buches. Es klingt klar und selbstbestimmt, aber sie zweifelt, verzweifelt und versteckt sich, verstößt sogar ihre große Liebe. Shuiling, die in der Schule zwei Jahre über ihr war, war die Frau ihrer Träume. Shuiling, die Prinzessin, für die Lazi Beschützerinstinkte entwickelte, um sich dann zurückzuziehen, weil sie glaubte, sie beschmutze die andere nur. Das ist mitunter quälend zu lesen, quälend, weil sie nicht sein kann, wie sie sein möchte. Nicht zuletzt ist Lazis permanente Suche ein Zeitportrait der frühen 1990er Jahre. Wenn sie dann noch nebenbei einen Filmkanon von Leos Carax über Jean-Jaques Beneix‘ „Betty Blue“ bis zu Truffaut und Jarman erwähnt, der jedem etwa gleichaltrigen westlichen Leser vertraut sein dürfte, fragt man sich im Umkehrschluss, wie vielen westlichen Lesern die Namen von Sylvia Chang oder Luo Dayou vertraut sind.

Bei Erscheinen des Buches liegen vierzig Jahre Militärdiktatur hinter Taiwan. Qiu Miaojin alias Lazi ist lebenshungrig, will ausbrechen aus vorgefertigten Strukturen von Bildung, Arbeit, Heirat, Familie, die von ihr und Gleichgesinnten als Gefängnis empfunden werden. Sie wissen nichts davon, dass Taiwan die erste Demokratie in Asien wird, die 2019 die Ehe für alle einführt. Qiu Miaojin gilt als Märtyrerin auf dem Weg dorthin. Lazi, der Name der Protagonistin, wurde zum Synonym für Lesbe: Man geht zu Lazi-Partys, im Netz gibt es Lazi-Foren. Der Versuch dieser Synonymität auch in der Übersetzung Ausdruck zu verleihen, macht aus Lazi Les-pe. Die zufällige Verwendung beider stört aber eher den Lesefluss.

Bilder und Interviews von Demonstrationen der LGBTQ-Community in Taiwan bilden die Klammer in Love and Death in Montmartre von Evans Chan (陳耀成 : 蒙馬特之愛與死). Er hatte erst 2014, während der Arbeit an einem anderen Film von Qiu Miaojin gehört, war begeistert von ihren Büchern und recherchierte weiter. In seiner Dokumentation aus dem Jahr 2019 verbindet Evans Chan Reinactments und Interviews mit Szenen aus den zwei Kurzfilmen von Qiu Miaojin selbst (Guide me to Sleep請指引我睡眠, The Revelries of Ghosts 鬼的狂歡) und Lotte Yues (岳樂天) Last letters from Montmarte (2010) zu einem dichten Portrait dieser außergewöhnlichen jungen Frau. Musikalisch unterlegt er den Film mit Auszügen aus Everlasting Love (2018), einem Werk für Orchester, das Yen Ming-hsiu (顏名秀) in Erinnerung an Qiu Miaojin komponierte. Lai Hsiang-yin, Schriftstellerin und enge Freundin erzählt, dass Qiu Miaojin sie noch in Tokyo besuchte, wo sie damals wohnte. Sie diskutierten über die Zukunft und das Schreiben, was ihren Körper und ihre Seele heilen könnte. Dann der Schock über Qius Tod, den sie viel später in Thereafter (其后) verarbeitete. Mit dieser Erzählung fand sie nach langer Pause 2012 wieder zur Literatur zurück. Und natürlich fehlt auch im Film das Krokodil nicht, in dem unschwer die Autorin zu erkennen ist. Das Krokodil wird zum Sinnbild des Andersseins, die eingestreute Krokodilserzählung damit zur Allegorie, die das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Homosexualität aufzeigt. Ihr alter ego stülpt sich im Film eine Krokodilsmaske über. Im Buch, um nicht aufzufallen, zieht das Krokodil einen Menschenanzug an. Der kann in Taiwan inzwischen im Schrank hängen bleiben.

Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils, Deutsch von Martina Hasse, Ulrike Helmer-Verlag 2020, 340 Seiten, 20,00 €

Tod in Paris – Vom Weiterleben der Qiu Miaojin