Viele chinesische Filme der diesjährigen Berlinale fingen Momentaufnahmen aus dem Leben ihrer Protagonisten ein. Große Aufmerksamkeit zeigten sie für die unmittelbare Umgebung, wie den Blick aus dem Fenster, oder ins grüne Blätterdach beim Spaziergang durch den Wald; für unspektakuläre Ansichten, die imer wiederkehrten. Die Enden blieben offen, wie das bei Momentaufnahmen so ist. Dabei spielte Zeit eine große Rolle, Zeit für lange Einstellungen, als wollten die Filme den Moment unter die Lupe nehmen und genießen. So wie es die chinesische Moosforscherin bei ihrer zufälligen Begegnung mit einem Rumänen in Belgien tut. Sie reicht ihm die Lupe, damit er die Miniaturwelt der Moose besser betrachten kann. Eigentlich regelt er nur noch ein paar Dinge, bevor er in den Sommerferien nach Hause fährt. Der Kühlschrank muss geleert werden, er kocht Suppe, die er Freunden und Bekannten schenkt. Die Aufmerksamkeit für kleine Dinge, für Gesten, die unsere persönliche Welt ausmachen, und dabei scheinbar unendlich viel Zeit für das Gegenüber, stellen eine klare Absage an das Hamsterrad, in dem viele Menschen gefangen sind, dar. Erwähnter Film kommt aus Belgien und heißt einfach „Here“ (Regie: Bas Devos). Seinen Weltvertrieb hat Rediance aus China übernommen und nicht zum ersten Mal bringt die Firma spannende Filme nach Berlin.

Im Schatten der weißen Pagode im Westen Pekings gleitet das Leben des geschiedenen Foodbloggers Gu Wentong dahin. Der Tempel der weißen Pagode steht dort seit der Yuan-Dynastie und es heißt, ihren Schatten könne man nur im fernen Tibet finden oder in sich selbst. Sie bildet den Fixpunkt im Leben von Gu Wentong. Entgleitet ihm das Leben gerade? Was soll noch kommen? Früher hat er mal Gedichte geschrieben. Er ist in den sogenannten mittleren Jahren, um die 40, erwartet nichts Außergewöhnliches mehr und ist immer sehr kontrolliert. Da steckt ihm sein Schwager einen Zettel mit der Telefonnummer seines verschwunden geglaubten Vaters zu. Und dann ist da noch die Fotografin Beihua, die eigentlich Ouyang Wenhui heißt. Sie ist jung, voller Energie und provokant, scheinbar das Gegenteil von Gu. Beide arbeiten zusammen, verbringen Zeit miteinander und doch bleibt ihr Verhältnis distanziert. Aber unter ihrem Einfluss beginnt Gu, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Man glaubt geradezu Emotionen zu spüren, wenn er sich auf die Suche nach seinem Vater macht. Er wuchs ohne ihn auf, weil die Mutter ihn wegen einer angeblichen Grabscherei im Bus verstieß. Nun fährt Gu Wentong zu ihm nach Beidaihe. Er beobachtet ihn beim Drachensteigen am Strand, geht in seine Wohnung, wenn er nicht da ist. Wir erleben eine vorsichtige Annäherung. Parrallel erfahren wir Stück für Stück die Geschichte von Beihua, der Blume des Nordens. Auch Spuren ihrer Vergangenheit führen nach Beidaihe, in ein verlassenes Kinderheim dort. Gemeinsam und doch getrennt tasten beide sich zurück. Ouyang überspielt eigene Befindlichkeiten meist mit Schlagfertigkeit. So auch beim Spaziergang im Park, als sie sich plötzlich als Tochter von Gu ausgibt und behauptet, „ihr Vater“ lasse sie nicht dem Schachspiel zusehen. Die Situation droht zu eskalieren, denn alle Schach spielenden Männern sind plötzlich gegen Gu aufgebracht, bis jemand einschreitet. Parrallelen zum Schicksal von Gu Wentongs Vater drängen sich auf. Die Geschichte liest sich ziemlich konstruiert. Der Film selbst ist gar nicht hölzern, mit seinen kleinen charmanten Alltagssequenzen. Der Regisseur Zhang Lu 张律 sagt, dieses mittlere Alter sei so eine Phase des Zögerns und Nachdenkens, genau das interessiere ihn. Die nostalgische Suche der Protagonisten wird durch die Wahl des Schauplatzes und der Schauspieler unterstrichen. „The Shadowless Tower“ (白塔之光) zeigt eins der alten Beijinger Stadtviertel mit schmalen grauen Gassen, hinter deren fensterlosen Mauern sich die traditionellen Vier-Harmonie-Höfe entfalten. Die Rolle des alten Gu spielt Tian Zhuangzhuang 田壮壮 . Der berühmte Regisseur der 5. Generation und Filmproduzent ist mittlerweise 70 Jahre alt. Ein anderes wohlbekanntes Gesicht im Film war das des Schwagers von Gu Wentong. Der wird von Wang Hongwei 王宏伟, der in nahezu allen Filmen Jia Zhangkes zu sehen ist, gespielt.

Der chinesische Film sei wieder da, freut sich Meng Xie 谢萌 von Rediance und viele jubelten mit. Ganz verschwunden aus dem Berlinale-Programm war er zwar nie, doch hinterließ er nicht immer bleibende Eindrücke. Und wenn jetzt mancherorten geschrieben wird, so viele Filme aus China gab es noch nie auf dem Festival, stimmt das auch nicht ganz. Man schaue nur in die 1990er Jahre. Das tun auch einige Filme. Die Zeit gleich im Titel trägt der zweite diesjährige Wettbewerbsbeitrag aus China „Art College 1994″. Wie schon Zhang Lu ist auch der wunderbare Zeichentrickfilm-Regisseur Liu Jian 刘建 nicht zum ersten Mal bei der Berlinale dabei. Ebenfalls nicht zum ersten Mal und mit gleich zwei Filmen dabei ist Zhang Dalei 张大磊 . Er nennt die Neunziger ein goldenes Zeitalter, vor allem bezogen auf ihre Langsamkeit.

Dieses thematische Feld umreißt sein Kurzfilm „All Tomorrow’s Parties“ (我的朋友). Der Film fängt einen Moment am Ende der Asienspiele 1990 ein. In einer Fabrik werden gerade die Außendekorationen abgebaut. Wir sehen das aus der Pförtnerloge von Zhou (Zhou Xun 周迅), die Karten für die Filmvorstellung am Abend verteilt. Ein schüchterner Dichter (Wang Yibo 王一博) kommt vorbei und wartet auf jemanden. Dem wird er erzählen, dass ihn sein Trip bis nach Qinghai führte und einen schmalen Gedichtband übergeben. Am Abend läuft im Kinosaal der Fabrik „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von Francois Truffaut. Die Pförtnerin und der Dichter wechseln einige Worte. In der letzten Szene des Truffaut-Films rennt Antoine Doinel auf das Meer zu, das Bild friert ein. Dieser Moment als Ausdruck von Freiheit und Sehnsucht wurde überall verstanden. Zhang Dalei erzählt nach der Vorführung, dass für ihn wie für andere Cinéasten Truffaut zum Kanon gehöre. Der 24-minütige Film ist eine Hommage an Kraft und Magie des Kinos. Die Asienspiele waren ein Neubeginn, die Welt wurde willkommen geheißen und sollte vielleicht auch vergessen machen, was war. Dass junge Dichter wie Li Mo auf weite Reisen durchs Land gingen, war in den 1990er Jahren kein Einzelfall. Gedreht hat Zhang Dalei seinen Film in einer stillgelegten ehemaligen Filmfabrik in der inneren Mongolei. In der ebenfalls von ihm vorgestellten Serie „Why try to change me now?“ (平原上的摩西 ) werden wir den Drehort wieder erkennen. Die 6-teilige iQiyi-Serie erzählt die Geschichte von Zhuang Shu. Er wächst in den 1990er Jahren in einer Industriestadt im Norden auf. In die naturalistische Lebensgeschichte des Jungen, dessen lebenslustiger Vater in einer Zigarettenfabrik arbeitet und dessen stille Mutter sich in Bücher flüchtet, platzt ein Mordfall. Zhuang Shu ist kein einfaches Kind und dann eröffnet er den Eltern, dass er Polizist werden will. Zhang Dalei hat für die Fernsehserie den erfolgreichen Roman „Moses on the Plain“ von Shuang Xuetao adaptiert.

Wu Langs 邬浪 Spielfilm-Debut „Absence“ (雪云) spielt ganz im Süden Chinas. Hierfür hat er seinen gleichnamigen Kurzfilm, der 2021 in Cannes lief, erweitert. Auch dieser Film wird übrigens von Rediance vertrieben. Sein chinesischer Titel 雪云 stehe für das, was da ist – Wolken, und das, was fehlt – Schnee, so der Regisseur. Auf der Tropeninsel Hainan, begibt sich Han Jiangyu in einen Frisiersalon, einen schäbigen kleinen Laden. Das Hainan hier stammt definitiv nicht aus einem Tourismusprospekt. Lee Kang-sheng 李康生, Darsteller in allen Tsai Ming-liang Filmen, ist dieser Han Jiangyu. Die Friseurin erkennt ihn und so wortlos wie das Wiedersehen nach 10 Jahren Gefängnis ist auch die Liebesgeschichte der beiden. Die Vergangenheit wird nicht thematisiert, blitzt allenfalls kurz mal auf. Su Hong hat eine etwa 10-jährige Tochter, die sie all die Jahre allein großzog. Ihre ganzen Ersparnisse hat sie in ein Appartement des Neubaukomplexes gesteckt, der entstehen sollte. Es war der Plan von Han Jiangyus alten Freunden, aber es gab Probleme, das Projekt stockte, die Geschäftsleitung verkrümelte sich. Zurück bleiben Bauruinen. Was tun? Resignieren? Sie sind zu dritt, haben sich und selbst das Lächeln ist zurückgekehrt. Die kleine Familie zieht um, zieht in die teilweise überfluteten Bauruinen. Die Natur erobert sie sich gerade zurück. Enten sind dort und Schafe, warum nicht der Mensch? Zahlreiche Tiere, reale und abgebildete, bevölkern den Film, so als wolle der Regisseur auf die Kraft der Natur hinweisen, der der Mensch sich entfremdet hat. Wenn Su Hong im Rüschenrock und in Schlappen über Betonstreben balanciert soll das normal wirken und doch an dieses Leben nicht angepasst. Man findet die Langsamkeit und langen, nahen Einstellungen aus anderen Berlinale-Filmen hier noch stärker wieder. Unverkennbar scheint der Stil von Tsai Ming-liang durch 蔡明亮 , was nicht zuletzt am Hauptdarsteller liegt. Wortkarg wie immer schlurft Lee Kang-sheng durch den Film. Doch im letzten Drittel nimmt der Film eine sehr eigene, apokalyptisch-surreale Wendung, wenn Allem zum Trotz sich die kleine Familie in einem der oberen Stockwerke sich ein Nest baut: fragil, zugig und ganz bei sich.

Den Wunsch, sich im Leben einzurichten, ungestört von großen und rasanten Entwicklungen der Moderne, haben wir in vielen Filmen gesehen. Die Protagonisten suchen nach Wärme und Freundschaft. Wir sehen keine Superhelden oder Leute, die hehren Idealen entgegenstreben. Politik und Gesellschaft bleiben meist im Hintergrund und verleihen den Figuren Dreidimensionalität. Es geht einfach nur darum, das Beste aus der Realität zu machen. Dabei kommt es auf die Perspektive an, wie der alte Gu am Ende von Zhang Lus Film erklärt: Das Wort „Sarang“ bedeutet Liebe auf Koreanisch und Narr auf Uigurisch.

Warum in die Ferne schweifen … China auf der Berlinale 2023