Rainer Kloubert erzählt in seinem neuen Buch höchst unterhaltsam und assoziativ Geschichten aus der Verbotenen Stadt: Vom Kaiser, der sich nur selten dort aufhielt, von 108 Gerichten, die eigens für ihn im kulinarisch-bürokratischen Monster namens Palastküche zubereitet wurden, von Konkubinen, die beseitigt wurden und anderen, die mit ihm eine Nacht verbringen durften, von Wahrsagern und Beamten, davon, wie der kaiserliche Fingernagel Strichcodes am Rand von Throneingaben hinterließ, damit dementsprechende Bescheide verfasst werden konnten, und wer die eigentlichen Herrscher der Kaiserstadt waren.

Zu jeder Geschichte finden sich ausführliche Fußnoten, in denen zur Erzählung passende Schriftzeichen, ihre Herkunft und Entwicklung erklärt werden, Sprache als Ausdruck der Kultur. Außerdem ist der Band reich bebildert. Immer wieder sieht man Ansichten der leeren Verbotenen Stadt. Aufgenommen hat diese der japanische Fotograf Ogawa Kazumasa unmittelbar nach dem Boxeraufstand. Die kaiserliche Familie war noch nicht wieder zurückgekehrt, Hallen sind verwaist und auf vielen Fotos entdeckt man einen jungen Eunuchen, vom Autor der „Kleine Liu“ getauft, ein „heimlicher“ Führer zu Toren, Hallen und Palästen. Doch nicht die Tore und Paläste seien das, was die Verbotene Stadt ausmache, sondern die Leere dazwischen. Ein Zentrum, einen Ort, wo der Kaiser gewohnt hat, eine Mitte der verbotenen Stadt sucht man vergebens, „es gab keine Mitte in der Verbotenen Stadt des Reiches der Mitte“, schreibt Kloubert.

Ogawa Kazumasa vor dem Tor der Himmlischen Reinheit

Regeln begrenzten den Zugang zu bestimmten Bereichen in der Stadt. Zur Zeit der Mandschu-Herrschaft gab es eine äußere oder Chinesenstadt, die innere oder Tartarenstadt, schließlich die Kaiserstadt, in deren Innerem die Verbotene Stadt mit äußeren und inneren Höfen lag. Zum inneren Teil hatten nur noch die kaiserliche Familie und deren Bedienstete Zutritt. Die eigentlichen Herrscher in der verbotenen Stadt der Qing-Dynastie aber waren die Eunuchen. Die Mandschu-Kaiser hielten sich eher selten hier auf.

Die vielen kaiserlichen Beamten traten ihren Dienst sehr früh am Morgen an und nach einem oft langen Weg zur Arbeit durch das nächtliche Peking hatten sie Hunger. Am Eingang zur Kaiserstadt, dem Tor des Himmlischen Friedens, wimmelte es von Straßenhändlern und Garköchen, die anboten, was die Beamten verlangten. Und sie trugen dabei Beamtenhüte. Diesen Platz vor dem Tor durften nämlich nur Beamte betreten. Also taten sie so, als ob auch sie welche seien. Denn wenn in China etwas nicht passte oder unmöglich war, aufgrund von Verboten, dann hat man es passend gemacht. Das war „die praktische chinesische Art, dem Gesetz dadurch Genüge zu tun, dass man „so als ob“ getan habe, in der berechtigten Hoffnung, dass auch die Gegenseite „so als ob“ tun würde“, sagt Qi Rushan. Er ist mit seinen Geschichten und Erinnerungen aus dem alten Peking der Gewährsmann des Autors. Qi Rushan (1877-1962), war Dramatiker und Erforscher des traditionellen chinesischen Theaters, der Mei Lanfangs Impressario wurde, und der sich mit den Sitten und Gebräuchen im alten Peking auskannte und diese niederschrieb.

Am Anfang des Buches steht eine verbotene Nacht in der Verbotenen Stadt. Eines Abends hatte der Autor einfach beschlossen, sich einschließen zu lassen. So als ob er die Stille, das Geheimnisvolle suche, um in die Wunder und Geschichten des Palastlebens einzutauchen, und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Rainer Kloubert war damals, kurz nach der Kulturrevolution als Lektor in der Wörterbuchredaktion der Fremdsprachenhochschule tätig. Seine Affinität zu den Zeichen schlägt sich, wie oben erwähnt, im Buch nieder. Mit diesen Schriftzeichen hat auch seine These zu tun, warum denn die Chinesen anders denken als wir. Chinesisch sei nicht gerade die Sprache, die einem in den Sinn kommt, wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, so Kloubert. Das Thema dürfte alle schon beschäftigt haben, die sich etwas näher mit China auseinandergesetzt haben. Aber haben die Chinesen wirklich abstrakte Zeichen im Kopf, statt die Wirklichkeit zu sehen?

Die Bilder würden nur zu anderen Bildern führen, das erkläre auch den Umstand, „dass man in China nie einen systematischen Versuch gemacht hat, den Dingen auf den Grund zu gehen“. Dieser Gedanke sei deswegen nicht gekommen, „weil die vielen Zeichen und Symbole die Dinge selbst verdrängten, für beide war nicht genug Platz in den Köpfen“. Steile These! Das dürfte sich mittlerweile geändert haben, wie auch der Autor am Ende des Buches einräumt. Denn heute meistern Chinesen die lateinische Umschrift, wie auch die englische Sprache und sind damit im Vorteil, gleich zwei Denktraditionen zu kennen.

Rainer Kloubert mischt meisterhaft eigene Erfahrungen mit Fakten und Anekdoten, so dass man in vergangene Zeiten eintaucht, in Geschichten schwelgt und beim Blättern im Buch von Assoziationen, Zeichen und Symbolen fortgetragen wird.

Die Verbotene Stadt, sei eine Fiktion, schon zu Zeiten der Qing-Dynastie war sie ein Symbolbild. In den Jahrhunderten, da Wirklichkeiten das Weltgeschick bestimmten, hatte es China mit seinen Geschichten und Narrativen, seinen „Einbildungen“ schwer, schreibt Kloubert. Doch heute, wo solche Einbildungen und Erfindungen Wirklichkeiten ersetzen, seien die Chinesen uns dank ihrer Schriftzeichen weit voraus auf dem Weg in eine virtuelle Zukunft.

Rainer Kloubert: Verbotene Stadt – verbotenes Land? Zeichen im Reich der Mitte, 2025, 272 S., € 65 [D] / € 66,90 [A] / sFr 88.

Verbotene Stadt – verbotenes Land? Zeichen im Reich der Mitte