Auf den Spuren ihrer Familie begibt sich die in Kanada geborene Jessica Lee nach Taiwan. Sie nähert sich der Insel aus naturhistorischer Perspektive und verwebt diese kunstvoll mit dem Schicksal ihrer Familie. Der wander- und naturbegeisterte Leser wird ihr freudig durch Bergpfade und Felsspalten sowie nebelverhangene Waldwege folgen und mit ihr die Inselflora und ihre Naturgewalten entdecken. Jessica Lees Umrundung der Insel lässt, als Wanderführer gelesen, die Sehnsucht zurück, all das selbst zu erkunden, wenn auch manchmal bei besserem Wetter als beschrieben.

Bewegung ist vielleicht das, was die losen Enden der ausgelegten Fäden, die Pfade und Spuren in diesem Buch zusammenknüpft: Da ist zunächst die Bewegung der Insel, die von den Portugiesen einst Formosa – die Schöne genannt wurde. Aus dem Zusammenstoß zweier tektonischer Platten geboren, wird sie immer wieder von Erdbeben heimgesucht. Der Wetterdienst verzeichnet auf Taiwan rund fünfzehntausend Beben pro Jahr, von denen nur ein Bruchteil für Menschen wahrnehmbar ist. Hinzu kommen Taifune, die die Insellandschaft stetig verändern.

Wir lesen von der geologischen und botanischen Entdeckung Taiwans, von der Bewegung der Pflanzen in höhere, kühlere Regionen aufgrund der Klimaerwärmung. Und am Rande lernt man auch noch, was Sterkulien oder Epiphyten sind, wenn man die der Autorin geläufigen Begriffe nachschlagen muss.

Jessica Lee, die kanadisch-britisch-taiwanische Autorin hat in London Landschaftsgeschichte studiert, und ihre Bücher werden dem Nature Writing zugeordnet. Im englischsprachigen Raum ein etablierter Begriff, der hierzulande durch die Reihe „Naturkunden“ einen eigenen Platz bekommt. Der Begriff wurde unübersetzt ins Deutsche übernommen, wie der von Matthes und Seitz seit 2017 ausgelobte Deutsche Preis für Nature Writing zeigt. Als Herausgeberin der Willowherb Review setzt sich Jessica Lee dafür ein, Schriftstellerinnen of Color im Bereich des Nature Writing sichtbarer zu machen. Seit 2014 lebt sie in Berlin. Hier wurde sie zur Schriftstellerin. Ihre Bücher entstehen aus der Bewegung der Autorin zwischen Ländern und Sprachen, denn Heimat sei ebenso in der Sprache, wie in der Landschaft, heißt es in „Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin“ aus dem Jahr 2017. Nun wechselt sie abermals den Kontinent, folgt dem Ruf der Insel, die ihre Großeltern mütterlicherseits als Heimat betrachteten. Sie hatten im chinesischen Bürgerkrieg das Festland verlassen und fast vierzig Jahre auf Taiwan gelebt, bevor sie 1974 mit ihrer Tochter, der Mutter der Autorin, nach Kanada auswanderten. Kurz vor seinem Tod war der Großvater nach Taiwan zurückgekehrt. Nach seinem Tod wächst in Jessica Lee eine ungekannte Sehnsucht nach der Heimat dieses Teils der Familie.

In Taiwan lernt sie die Sprache ihrer Mutter, denn aus ihrer Kindheit kannte sie nur einzelne Wörter auf Mandarin. Ihre Muttersprache und auch die des Vaters, eines Walisers, ist Englisch. Und als sie auf dem Nenggao-Trail einen deutschen Mitwanderer trifft, macht es ihr Spaß, deutsche Wörter in die Unterhaltung einzustreuen und Vergleiche anzustellen. „Ihre langgezogenen Silben bilden sich weit hinten im Mund, während Mandarin eher die Zähne und Lippen beschäftigt.“ (73) Dort, wo die Worte fehlten und sie sonst auf die Sprache der Landschaft und Pflanzen zurückgreifen konnte, versagte nun auch jenes Vokabular. „In Taiwan […] war ich botanisch hilflos, die Bäume waren mir genauso fremd wie die Farne, die aus den Fenstersimsen sprossen. Die Pflanzen Taiwans sind zu zahlreich, um sie alle zu benennen.“ (23) Von ihrer Mutter lernte sie ein paar Pflanzennamen auf Chinesisch, die sie anders nicht hätte benennen können. Da ist wieder die Bewegung, diesmal die zwischen den Sprachen. Im Buch begegnen uns die Pflanzen- oder Baumarten nun auf Latein, Chinesisch oder Deutsch, in lateinischen Buchstaben oder chinesischen Schriftzeichen wie der exotische Jadestaubgefäßbaum, dessen chinesischer Name 玉蘂科 – Yuruike für Jessica Lee wie Eureka klingt. Spätestens hier ist es an der Zeit, für die gelungene Vermittlung im Gewirr der Sprachen der Übersetzerin Susanne Hornfeck zu danken, denn es ist ein Vergnügen sich die Sprünge zwischen den Sprachen auf der Zunge zergehen zu lassen.

Es sind die Bäume, deren Wurzeln die Erde festhalten, die die Berge wieder zusammennähen. In den vier Buchteilen Insel, Berg, Wasser und Wald, innerhalb derer die einzelnen Kapitel durchnummeriert sind, gibt es mit 木Mu – Baum bezeichnete,eingestreute Kapitel. Sie geben Halt in der bewegten Familiengeschichte der Autorin. Es sind Erinnerungen aus dem Brief des Großvaters und Gesprächsaufzeichnungen der Großmutter. Und sie führen letztendlich zum Finden einer Familie, sodass sich der Kreis der Erkundungen hier schließt und aus den einzelnen Bäumen ein 林 Lin – Wald wird.

Jessica J. Lee: Zwei Bäume machen einen Wald, aus dem Englischen übersetzt von Susanne Hornfeck, Matthes & Seitz Berlin 2020, 216 Seiten, ISBN: 978-3-95757-961-4, € 28,00.

Ruizhong 1/2021, Seite 35

木 + 木 = 林: Zwei Bäume machen einen Wald