von Chen Yun-hua
Im Jahr 2020, das so ganz anders verlief als erwartet, wurden Mini-Krimiserien nach einer Flut neuer Produktionen zu den Lieblingen des chinesischen Publikums. Ihre thematische Bandbreite ist groß, die Plots sind packend und rasant. Die erfolgreichsten unter ihnen trafen mit gut und nah an der sozialen Realität erzählten Geschichten den Nerv der Zuschauer.
Schon 2017 zogen der Hardboiled-Krimi „Day and Night“ (白夜追凶), produziert vom Video-Portal Youku, und die iQiyi-Produktion „Burning Ice“ (无证之罪) über menschliche Abgründe, eine neue Zuschauergruppe an: meist Männer mittleren Alters, die für hochwertige Inhalte auch Geld ausgeben. Bei ihnen gibt es seitdem nicht nur ein Verlangen nach guten Krimiserien, sondern auch einen Sinn für deren ästhetische Umsetzung. Drei Jahre später veröffentlichten Youku und iQiyi nun erneut eine Reihe hervorragend produzierter Krimiserien exklusiv auf der eigenen Plattform. Ihre Wiedererkennbarkeit soll das Publikum an die jeweilige Plattform binden und seine Zahlungsbereitschaft erhöhen. Coronabedingt verbrachten die Menschen plötzlich viel mehr Zeit zu Hause und die Zahl der Online-Nutzer wie der am Bildschirm verbrachten Stunden stieg beträchtlich, was dem Serienphänomen erheblichen Aufwind gab.
Zahlenmäßig liegt Youku mit zwölf angebotenen Krimiserien vorn. Dabei setzt der Online-Dienst auf eine neue Generation von Schauspielern und verbindet das Krimigenre mit Elementen aus Liebes-, Abenteuer- oder Science-Fiction-Filmen, um vor allem junge Zuschauer anzusprechen. Die Filmliste im sogenannten Mist-Theatre, das ist iQiyis Mediathek für kurze Krimiserien, ist mit sechs Werken etwas kürzer. Dort setzt man auf bekannte Schauspieler wie Qin Hao, Wang Qianyuan oder Liao Fan, die auf internationalen Filmfestivals Preise gewonnen haben, und auf das klassische Krimi-Genre. Tencent, der dritte große Streaming-Dienst im Bunde, bedient den Trend mit seinem neuen Film „A Murderous Affair in Horizon Tower“ (摩天大楼), dessen Handlung auf Frauenschicksale fokussiert ist.
Der Erfolg dieser Krimiserien zeigt, dass Kürze und Prägnanz, ein schnelles Erzähltempo, sowie innovative Inhalte gefragt sind. Das stellt hohe Anforderungen an die erzählerischen Fähigkeiten der Macher, was die Überzeugungskraft des Plots, aber auch die Bild- und Tongestaltung betrifft. Weltweit geht der Trend in den letzten Jahren hin zu kurzen Serien, die auf weitschweifige Nebenhandlungen verzichten, wobei die einzelnen Episoden kürzer und ihre Anzahl geringer wird. Eine Serie wie „Love Stories in the Country Side“ (乡村爱情) mit acht Staffeln und insgesamt 609 Folgen wird man heute kaum noch finden.
2020 war das große Jahr der Miniserien. Voraussetzung für den Erfolg ist, dass sie sich in kürzester Zeit herumsprechen und zu einem must-see entwickeln, damit Zuschauer bereit sind, dafür zu zahlen. Die meisten Miniserien sind Adaptionen bekannter Romane: So ist „Kidnapping Game“ (十日游戏) die erste chinesische Adaption eines Buches des japanischen Mystery-Autors Keigo Higashino. „The Long Night“ (沉默的真相), „The Bad Kids“ (隐密的角落) und „Burning Ice“ (无证之罪) basieren auf Geschichten des chinesischen Krimiautors Chen Zijin. Einige Serien bedienen sich wiederum bei erfolgreichen amerikanischen Serien und Filmen: In „Missing Persons“ (失踪人口), wo Überlebende eines Verkehrsunfalls versuchen, aus einem mysteriösen Flusstal zu finden, klingt das spannungsgeladene Science Fiction-Setting von „Lost“ (2004-2010) an. Die Idee der Zeitschleife in „Sisyphus“ (在劫难逃) lässt einen an „Groundhog Day“ (1993) oder „Source Code“ (2011) denken. Die wenigsten Serien beruhen jedoch auf Originaldrehbüchern. Und wenn, wie im Fall von „Crimson River“ (非常目击), waren die Kritiken gleich weniger gut.
Dabei haben beide, Originaldrehbücher und Adaptionen, ihre Vor-und Nachteile. Erfolgreiche Romane liefern zwar den kompletten Plot und seine Struktur, doch bei der Filmadaption sind die hohen Erwartungen der Leser des Originals nicht so schnell zufrieden zu stellen. Die aus Büchern bekannten Enden werden meist abgewandelt, um die Spannung des Films aufrechtzuerhalten. Sensible Inhalte, die in Büchern toleriert sind, werden in der filmischen Umsetzung aufgrund der strengeren Zensur verwässert. Die Serie „The Bad Kids“ zum Beispiel darf im chinesischen Original nur noch „Hidden Corners“ heißen, damit das Böse nicht schon im Titel erscheint. Nur durch das Verwischen von Traum, Fantasie und Realität wird hier Raum für eigene Vorstellungen jenseits der offiziellen Version gelassen. Ein Originaldrehbuch hat solche Verrenkungen nicht nötig, denn es besitzt alle Freiheiten bei der visuellen Umsetzung, muss dafür aber auch eine bis zum Ende spannende Erzählung liefern.
Verglichen mit anderen Genres ist der Krimi beschränkt, denn es geht immer um das Böse der menschlichen Natur. Dabei stößt man schnell auf Tabu-Themen, wenn es beispielsweise um böse Taten von Kindern, bestimmten Gruppen oder staatlichen Stellen geht. Deshalb werden auch oft fiktive geografische Angaben zu den Tatorten gemacht. Aber im Zuge der globalen Vermarktung des Genres lassen sich zunehmend auch sensiblere Themen unterbringen. In „A Murderous Affair in Horizon Tower“, zum Subgenre des Krimis mit weiblichen Protagonisten gehörend, geht es um die sexuelle Selbstbestimmtheit von Frauen. „The Bad Kids“ beleuchtet die Rolle der Herkunft, der schulischen Indoktrinierung und Verachtung sozialer Schichten füreinander, während „The Long Night“ die Gerechtigkeit innerhalb des Justizsystems hinterfragt.
Die einzelnen Streaming-Dienste versuchen in der stärker werdenden Konkurrenz ihre Machtpositionen zu festigen. iQiyi tut das, indem junge Regisseure, wie Chen Yifu („The Long Night“) oder Xin Shuang („The Bad Kids“), zum Zuge kommen. Auch die Art und Weise der filmischen Erzählung wird verändert, wenn zum Beispiel die Figuren in „The Bad Kids“ gleich ins Geschehen springen und die erschreckendste Szene des Films an den Anfang gestellt wird. So setzt der Spannungsbogen nicht an der Frage nach dem Mörder an, sondern an den Beziehungen aller Beteiligten untereinander, an dem, was sie verbergen oder sich anvertrauen. „Missing Persons“ springt zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her, und die vielen Parallelhandlungen in „A Murderous Affair in Horizon Tower“ erzählt jede Folge aus einer anderen Perspektive. Bei „The Long Night“ steckt wie in einer russischen Matroschka in jedem Fall wieder ein neuer, der aufgeklärt werden will. Und der mit Science Fiction-Elementen spielende „Sisyphus“ taucht ein in den sprichwörtlichen Kreislauf des Mythos.
Von allen Serien erhielten „The Bad Kids“ und „The Long Night“ sowohl das meiste Lob, als auch die besten Quoten. „The Bad Kids“ erzählt, wie drei Kinder auf einem Ausflug zufällig einen Mord filmen. Für Geld wollen sie dem Mörder den Film aushändigen, dabei verstricken sie sich und ihre Familien immer tiefer in den Fall. Die sprichwörtlich gewordenen Sätze des Mörders „Hab ich noch eine Chance?“ und „Steigen wir zusammen auf den Berg?“, sowie der sich durch die Serie ziehende Kinderreim vom kleinen, weißen Boot sind mittlerweile in aller Munde. „The Long Night“ begibt sich auf die Spur der Geheimnisse, die sich um den Leichenfund auf einem U-Bahnhof ranken.
Der Erfolg dieser beiden Serien ist nicht zufällig. Neben ihren Meriten für Drehbuch, Schauspiel, Bild-und Tongestaltung ist die Figurenzeichnung ungewöhnlich. Jede Figur hat Stärken und Schwächen. Die egoistischen unter ihnen beweisen plötzlich Warmherzigkeit und die Selbstlosen sind mitunter von eigenen Interessen gesteuert. Sie suchen nach Liebe in zerrütteten Familien, zweifeln bei der Suche nach Wahrheit an sich selbst oder versuchen Verbrechen für unabwendbar zu erklären. Die Spannung liegt in den Geschichten dieser dreidimensionalen Figuren aus Fleisch und Blut, deren Beweggründe mal mehr, mal weniger deutlich auf soziale Missstände verweisen.