Ouverture: Ein Motorrad fährt eine verlassene Straße in Shanxi entlang. Plötzlich wird es von Wegelagerern, drei jungen Kerlen, angehalten, die den Fahrer abzocken wollen. Er zieht seine Pistole und lässt drei Leichen zurück.
Der neueste Film Jia Zhangkes hatte zunächst keine Probleme mit der Zensur. Mit dem Segen Beijings lief der Film in Cannes 2013 und gewann dort den Preis für das beste Drehbuch. Es geht das Gerücht, dass Xi Jinping ein Fan Jia Zhangkes sei und dessen Filme denen Zhang Yimous beispielsweise vorziehe. Aber ob das der entscheidende Punkt war, weiß nur der Himmel. Trotz allem darf in chinesischen Medien nicht mehr über den Film berichtet werden und der für November 2013 anberaumte Kinostart in China ist längst verstrichen.
A Touch of Sin ist ein Bild der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft und beschreibt in vier Episoden, wie sich Menschen gegen Ungerechtigkeit und fehlende Moral wehren. Es ist eine mitleidlose und in manchen Augen bestimmt auch unerwünschte Bestandsaufnahme, die sich aus den faits divers, die in Internetforen und auf Weibo kursierten, speiste. Auch hierzulande bekannt, weil die Zeitungen darüber berichteten war die Häufung von Selbstmorden bei der Firma Foxconn, einen Zulieferer von Apple. Auch diesen Fall kann man etwas verfremdet in einer Episode wiedererkennen. Für diesen Film bedient sich Jia Zhangke einer narrativen Struktur, die aus Wuxia- oder Martial Arts-Erzählungen bekannt ist. Ihre Helden begehren gegen die Korruption des Staates auf und rächen sich für erlittenes Unrecht. Der chinesische Titel des Films, Tian zhuding (天注定), lässt sich mit Himmlische Vorhersehung übersetzen. Sein englischer Titel A Touch of Sin ist eine Verbeugung vor King Hu und dessen Film A Touch of Zen (侠女), ein Wuxia-Film, in dem Xu Feng als Yang Huizhen, der in sie verliebte Maler und Schreiber Gu Shengzhai mit Hilfe des buddhistischen Abtes Hui Yuan gegen die Machenschaften korrupter Eunuchen kämpfen. Zu einem hohen Preis, denn sie überleben nicht alle. Der Begriff Zen wird gemeinhin mit Begriffen wie Leere verbunden, Zen kennt kein Geheimnis und bietet keine Antworten. Auch Jia Zhangke beschreibt nur, er sieht genau hin, überlässt es aber dem Zuschauer, seine Schlüsse zu ziehen oder gar zu urteilen. Die von einem Rechtssystem nicht sanktionierten Handlungen werden im heutigen Sprachgebrauch schnell zu Terrorakten. Aber sie kommen nicht aus heiterem Himmel. Der Sünde ist eine andere vorausgegangen. Doch wo ist die Moral geblieben? Lässt sie sich wiederherstellen? Jia Zhangke hat einen modernen Wuxia-Film gedreht, eingebettet in zwei Szenen aus der traditionellen Oper, Geschichten, die jedem Kind in China vertraut sein dürften.
Und damit ist auch die „Erdung“ hergestellt, ein Bogen zur Tradition geschlagen, in deren Erzählungen dem Kampf gegen Ungerechtigkeit ein entscheidender Platz eingeräumt wurde, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Während es außerhalb der heutigen modernen Gesellschaft keinen benannten Ort gibt, von dem aus man handelt und darum eben sogenannte Terrorakte begeht, gab es in China das Reich der Flüsse und Seen – Jianghu, wo sich die Outlaws, die von der Gesellschaft Verstoßenen und die aus gerechten Motiven gegen korrupte Beamte und Söldner Kämpfenden versammelten, wie die auch hierzulande bekannten Räuber vom Liangshanmoor (Shuihuzhuan 水浒传). Einer der ihren war Lin Chong, der in der ersten Opernszene zu sehen ist, als er einem Mordkomplott im Wildschweinwald (so der Titel der gleichnamigen Oper, Yezhulin 野猪林) entkommen, beschließt, zum Liangshan zu gehen.
In Shanxi, dem Schauplatz vieler Filme Jia Zhangkes, ist die erste Episode angesiedelt. Hier in Wujinshan, dem Berg des schwarzen Goldes, arbeitet auch Hu Dahai. Er ist ein sympathischer Kerl (Jiang Wu, der kleine Bruder von Jiang Wen), den viele auf den ersten Blick mögen. Doch Hu Dahai kann seinen Mund nicht halten, will die Korruption des Minenbesitzers aufdecken, eine Petition nach Beijing schicken und die lokalen Bosse anzeigen. Auf den zweiten Blick sieht man, dass das vielen nicht schmeckt, sie haben doch ihr Auskommen, wenn auch mehr schlecht als recht. Hu Dahai wird von gedungenen Schlägern übel zugerichtet, niemand hört ihm zu, eine Postbeamte weigert sich die Petition nach Beijing anzunehmen, da die Adresse nicht korrekt sei. Er scheint umgeben von einer großen Leere, da ist die Oper, die er an der Stadtmauer sieht, nur noch das Zünglein an der Waage. Wie einst Lin Chong nimmt er sein Jagdgewehr, wickelt es in einen Stoff, auf dem das Bild eines Tigers prangt, und setzt sich gegen die Ungerechtigkeit allein zur Wehr.
Die zweite und wohl einsamste Episode ist die des Tagelöhners, den wir schon in der Ouvertüre kennengelernt haben. Wir folgen ihm nach Chongqing, wo er Frau und Sohn zum Frühlingsfest trifft. Die Familie kümmert ihn nicht, auch nicht die Bitten seiner Frau, nicht mehr fortzugehen. Emotional völlig verkümmert, ist alles, was er will, schießen. Und dann zieht er weiter, passt Passanten vor der Bank ab, erschießt und beraubt sie – ein Leben, wie ein Gangsterfilm. Und er bittet darum, Vorwürfe nur an den Jadekaiser zu richten, Verantwortung lehnt er ab.
Dann lernen wir Xiaoyu (Zhao Tao) kennen, zerrissen zwischen der Liebe zu einem verheirateten Mann, dem Verlangen, er möge sich endlich entscheiden, und ihrem Job an der Rezeption einer Mitternachtssauna. Sie erscheint stark und vernünftig, wie die Heldin Yang aus King Hus „A Touch of Zen“. Auch äußerlich gebe es Anklänge an deren Rolle, wenn man die Frisur oder das Kostüm betrachtet, erzählte Jia Zhangke in einem Interview. Den Geliebten vor die Entscheidung gestellt, wird Xiaoyu auch noch von dessen Frau zusammengeschlagen und dann kommt ein Kunde, der von ihr eine Massage und mehr wünscht. Ihren Einwand, dass sie an der Rezeption arbeite, lässt er nicht gelten, denn er bezahle ja für die Dienstleistung, er habe ja schließlich Geld. In der Rolle des Kunden, der denkt, er könne für Geld alles kaufen: Wang Hongwei, Alter Ego aus Jias frühen Filmen. Als er sie mit einem Bündel Geldscheinen schlägt, platzt der Geduldsfaden, sie greift zum Messer, richtet ein Blutbad an und flieht.
Weiter geht es nach Kanton, nach Dongguan, eine Stadt, die als Werkstatt Chinas für viele Bereiche der Leichtindustrie berühmt wurde. Als Xiaohui einen neuen Job braucht, ist es auch nicht schwer, irgendwo unterzukommen. Er landet in einem Etablissement für reiche Männer aus Hongkong und Taiwan, in dem die Mädchen zum Klang der Internationale in knappen Armeeuniformen aufmarschieren. Für Geld gibt es alles. In einem Cameo-Auftritt bietet Jia Zhangke als einer der Kunden des Etablissements am Telefon gerade für einen Xu Beihong. (Die Bilder von Xu Beiihong erzielten Rekordpreise auf Auktionen) Xiaohui verliebt sich in eine Kollegin, vielleicht zum ersten Mal. Aber was heißt Liebe in einer solchen Umgebung, wo alles käuflich ist? Seine Mutter nervt, denn sie will schon wieder Geld. In seinem Wohnheim stürzt er sich vom Balkon.
Und am Ende geht es noch einmal nach Shanxi, dorthin, wo alles begann. Die Firma Shengli (Der Sieg) expandiert. In der ersten Episode hatte sie eine staatliche Kohlemine aufgekauft. Der Boss hatte die Kungelei mit den örtlichen Beamten und das Geldscheffeln nicht überlebt. Jetzt führt seine Witwe die Geschäfte, eine Abfüllanlage für Softdrinks eröffnet. Xiaoyu, die Frau aus der Mitternachtssauna, sucht einen neuen Job. Sie geht spazieren, an der Stadtmauer wird wieder eine Oper gespielt. Es ist Yu tang chun (玉堂春,Die traurige Geschichte der Su San):
Die Kurtisane Su San liebt den Gelehrten Wang Jinlong. Als ihm das Geld ausgeht, bekniet sie ihn nach Hause zu fahren und an der kaiserlichen Prüfung teilzunehmen. Nach seinem Fortgang weigert sie sich einen anderen Mann zu empfangen. Deshalb verkauft das Bordell sie an einen reichen Kaufmann als Konkubine. Dessen Frau bringt wegen einer Affaire ihren Mann um und beschuldigt Su San. Sie kauft die Richter und Su San wird zum Tode verurteilt. Wang Jinlong, inzwischen hoher Beamter in Taiyuan, liest über den Fall und lässt ihn neu aufrollen. Wie erstaunt ist er, als er sieht, dass Su San die Angeklagte ist … und am Ende wird alles gut.
Doch so weit sieht Xiaoyu die Oper nicht. Jia Zhangke zeigt ein Land ohne Gerechtigkeit und ohne Moral, dennoch scheint so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. A Touch of Sin ist einer der aufwühlendsten Filme seit langem.