ZhaoLiangDie diesjährige Berlinale war im Hinblick auf China ganz entspannt, denn das Programm gab nicht mehr als vier chinesische Filme her. Über Chen Kaige, mit dem es – nach genialem Debut und wohlverdienter Goldener Palme 1993 für „Lebewohl, meine Konkubine“ (霸王别姬) – stetig bergab ging, sei her kein Wort verloren. Dante Lam war wieder einmal mit einem trockenen blutigen Hongkong-Spektakel jenseits der Touristenwerbung vertreten. („The Stool Pidgeon“) Die beiden anderen Filme kamen von Zhang Yimou und Zhao Liang.

China ist überall

Und dann war da noch ein koreanischer Film auf der Außenseiter-Position. Der Film „Man Chu“ (Late Autumn) spielt unter asiatischen Einwanderern in den USA. Tang Wei (Lust and Caution) verkörpert die chinesischstämmige Anna, die nach dem Mord an ihrem Ehemann eine Haftstrafe verbüßt. Als ihre Mutter stirbt, erhält sie 48 Stunden Hafturlaub. Der Film erzählt die Geschichte ihrer Begegnung mit Hoon, einem selbstverliebten Callboy, der so ganz anders als Anna ist. Kim Tae-Yong fängt die Geschichte zweier Außenseiter in spröden Bildern ein, an Orten des Übergangs, wie im Bus, an der Autobahnraststätte oder in einem Vernügungspark, der gerade demontiert wird. Auf den Bildern liegt eine leise Trauer. Seine Spannungsmomente zieht der Film aus der charakterlichen Gegensätzlichkeit von Anna und Hoon, denen man am Ende die Anziehung füreinander doch nicht glauben mag.

Unerwartet für mich treffe ich schon im Eröffnungsfilm auf einen Chinesen im wilden Westen von „True Grit“. Es ist ein freundlicher Händler, der Rooster Cogburn in seinem Lager hausen lässt, zwischenvon der Decke hängenden Enten und Getier und Körben voller Gemüse. Auch in der Südsee von Murnaus 1931 gedrehtem Film „Tabu“ kann man einem chinesischen Händler begegnen. Der ist jedoch weniger menschenfreundlich. Er macht seinen Job und will verdienen. Matahi lernt brutal, was Geld bedeutet. Was der Chinese ihm bisher angeschrieben hat, verlangt er nun zurück. Damit vereitelt er die Flucht von Reri und Matahi. Er wird somit zum Symbol des Kapitalismus, der das Paradies zerstört.

Die beeindruckendsten Filme auf der Berlinale waren die Geschichten, die nah an ihren Machern waren, die Teil ihres Lebens waren oder wurden. Bei dem Dokumentarfilmer Zhao Liang gehört das zur Arbeitsweise und bei Zhang Yimou ist es eine Rückkehr, wenn auch eine idealisierte, zu seinen Wurzeln, seiner Jugend.
Nach den teuren, durchgestylten Filmen kehrt Zhang Yimou mit „Shanzhashu zhi lian“ (山楂树之恋; Under the Hawthorn Tree) zu einer Einfachheit zurück, die ganz auf die Geschichte vertraut.
Jingqiu wird wie viele andere Jugendliche zur Umerziehung in ein Bergdorf geschickt. Hier begegnet sie Sun. Er arbeitet in einem geologischen Team, ist immer guter Dinge und findet Wege, Jingqiu zu beeindrucken. Für die erwachende und heimliche Liebe der beiden, findet Zhang Yimou unbeschwerte Bilder, in die stückchenweise die bittere Realität tröpfelt. Jingqius Vater wurde als Rechtsabweichler gebrandmarkt und sie muss umso mehr achtgeben, dass sie sich „richtig“ verhält und ihre Zukunft nicht gefährdet. Darüber wacht die Mutter z. Bsp. mit dem Gebot, dass Jingqiu sich nicht verlieben dürfe, bevor sie 25 ist. Als die Mutter von den heimlichen Treffen erfährt, müssen Jingqiu und Sun versprechen, sich nicht mehr zu sehen; Sun wird plötzlich schnell müde und muss ins Krankenhaus zur Untersuchung; Jingqius Freundin wurde schwanger und sie erzählt nach der Abtreibung, dass Männer doch nur das eine wollen und sich dann aus dem Staub machen. Ein Schlag für die naive Jingqiu. Sie zweifelt an Sun, da sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hat. Sie macht sich auf die Suche. Bis sie eines Tages ins Krankenhaus gerufen wird, wo Sun im Sterben liegt. Er wollte sie noch einmal sehen, er konnte nicht warten, bis sie 25 ist, aber er hat sein ganzes Leben auf sie gewartet. Der Film, so erfahren wir im Abspann, wurde in Hubei, im Kreis Yichang gedreht. Yichang, wie auch der titelgebende Weißdornbaum wurden im Zuge des Drei Schluchten-Staudammbaus geflutet. Sie existieren nur in unserer Erinnerung.
Konzentriert auf die Geschichte und jenseits der exponierten Farben seiner Vorgängerfilme, betont „Under the Hawthorn Tree“ die Natürlichkeit und bleibt nah bei seinen zwei Hauptfiguren. Dieser Film ohne Stars und großes Budget lief in China und Hongkong wider Erwarten gut, obwohl die Einfachheit und Naivität der Protagonisten Lichtjahre entfernt scheint von heutigen Jugendlichen und ihren Lebensumständen. Der Film ist vielleicht kein großer Wurf, soweit man einen solchen überhaupt von Zhang Yimou erwartet, aber er erzählt eine Geschichte, die in Berlin den ganzen Kinosaal zum Schniefen brachte. Komisch nur, dass die traurigsten Filme wie schon im vergangenen Jahr, in der Sektion Generation laufen.

Hoffnung geben – Erzählen, wie es wirklich ist

Panorama Dokumente zeigte Zhao Liangs Dokumentarfilm „Together“ (在一起)。 Dass er nach Berlin eingeladen wurde, ist angesichts des schwachbrüstigen China-Auftritts in diesem Jahr das Beste, was geschehen konnte. Aber die Einladung kommt spät. Zhao Liang ist einer der spannendsten Dokumentarfilmer der letzten Jahre. Einen Namen machte er sich auch als Photograph und Videokünstler. Seine Filme jedoch bekommt man in Deutschland nicht allzu oft zu sehen. 2007 nahm er u.a. mit seinem Film „Abschied vom Yuanmingyuan“ (告别圆明园 1995 – 2006) und der Installation „Chinese Confession Room“ (中国忏悔室 ) an der Veranstaltungsreihe „Umweg über China“ im HAU in Berlin teil. In Frankreich erschienen 2010 drei lange seiner Dokumentationen und drei Kurzfilme Zhao Liangs in einer DVD-Box und nun also „Together“ (在一起) bei den Filmfestspielen in Berlin. Es ist sein erster Film, der eine Genehmigung des Filmbüros hat und somit auch öffentlich in China gezeigt werden kann. Aids in China ist bislang kein öffentliches Thema, das will dieser Film ändern. In China, so schätzt man, leben 740000 Menschen, die das Virus in sich tragen, wobei 400000 nichts davon wissen. Ich wünsche dem Film von Herzen, dass er viele Zuschauer in China findet. Das ist auch das erklärte Ziel, „mit seiner Vorführung sollen die Menschen mehr über die Krankheit und ihre Übertragung lernen, damit HIV-Positive in China nicht mehr diskriminiert werden und ein besseres Leben führen können“, sagt Zhao Liang im Anschluss an die Vorführung.
Doch liegt in dem Umstand dass „Together“ die Zensur passierte auch ein Wermutstropfen. Man sieht es ihm leider an. Zu viele Kompromisse waren nötig zwischen Zhao Liangs nüchternem und bisweilen sprödem Stil und einer mehr mainstream-freundlichen Produktion. Der Film ist nicht einheitlich und einige Passagen sind dem Filmemacher absolut nicht zuzutrauen. Im zweiten Drittel des Films gibt es unvermittelt ein Bilderbuch mit Szenen vom Dreh. Das Ganze wird mit emotionstreibender Musik unterlegt, als ginge es darum, sich für die nächsten olympischen Spiele zu bewerben. Und der lange Abspann haut dann nocheinmal so richtig rein mit einer Musik, die einfach nur zum Weglaufen ist. So sprach Zhao Liang in Berlin auch davon, dass sein nächstes Projekt wieder ein eigener Film sein wird. Hoffentlich können wir dann auch diesen Film bald in Berlin sehen.
„Together“ dokumentiert die schwierige Suche nach Leuten, die HIV-positiv sind und die bereit sind, ihre Geschichte vor der Kamera zu erzählen. Der Film entstand quasi als ‚Making of‘ von Gu Changweis „A Tale of Magic aka Life is a miracle“ (魔术外传 ), geht aber weit darüber hinaus. Gu Changweis Film erzählt, wie ein ganzes Dorf von einem mysteriösen Fieber infiziert wird und wie die Krankheit das Leben der Menschen und ihr Verhalten zueinander verändert. Darin eingebettet ist eine von Zhang Ziyi und Aaron Kwok gespielte Liebesgeschichte. Die Krankheit im Film heißt nicht Aids, wird aber in Presse und Internetforen ziemlich direkt so benannt. Der gesamte Hintergrund der Geschichte beruht auf dem Umgang mit Aids und Aidskranken in China. Nicht zuletzt darum wollte Gu Changwei mit einer gemischten Crew aus gesunden und HIV-positiven Leuten arbeiten. Der Filmdreh diente also auch zur realistischen Verortung der Darsteller in der Story.
2009 sei Gu Changwei mit dem Projekt zu ihm gekommen, erzählt Zhao Liang. Zunächst ging es darum, das Problem Aids in China besser zu verstehen und in Kontakt mit Aidskranken zu kommen. Es gibt Chaträume Betroffener, doch zu diesen hat nicht jeder freien Zugang, um die Aids-Kranken vor der Verachtung und vor den Angriffen der Gesellschaft zu schützen. Zhao Liang konnte sich mit Hilfe hier tätiger NGOs Zugang zu diesen Communities verschaffen und wir hören das Klackern der Tastatur und Zeichen um Zeichen sowie Buchstabe für Buchstabe bauen sich Sätze auf: „Niemand würde mit mir reden, wenn sie wüssten, dass ich positiv bin.“ „Meine Mutter würde zusammenbrechen, wenn sie mich in einem Film sähe.“ Die meisten lehnen ab, ihr Gesicht zu zeigen, sie möchten lieber unerkannt bleiben. In der Vergrößerung des Computerbildschirmes wirken die Statements berührend, wie sie öffentlich gemacht, sich doch hinter der Anonymität des Rechners verbergen.

In einer frühen Szene konfrontiert Zhao Liang Statisten mit der Tatsache, dass einige Leute vom Team Aids hätten und fragt, wie sie dazu stünden. Die Reaktionen sind meist verlegen, ungläubig, das könne ja nicht sein – und wenn doch, wer denn? Wie tritt man einem Aidskranken gegenüber? – ist eine Frage, die bestimmt nicht nur in China aktuell ist. Aber die öffentliche Aufklärung über die Krankheit und über die Übertragungswege fehlt bisher in China. Darum arbeitete das Filmteam auch mit Ärzten zusammen, die Aufklärungsseminare halten. Und selbst wenn man über Aids Bescheid weiß, bleiben dennoch Berührungsängste. Zhao Liang begleitet das Filmteam und seine HIV-positiven Protagonisten über die dreimonatige Drehzeit.

Einer, der sich nicht mehr verstecken will, ist Lao Xia aus Shanghai. Er arbeitet in der Crew als Beleuchtungs-Double. Als er vorzeitig die Dreharbeiten verlassen muss, weil sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hat, zeigt der tränenreiche Abschied von der Crew, dass er kein anonymer Aids-Patient mehr ist, sondern dass er mittlerweile Kollege und Freund geworden ist, um den man sich sorgt. Zhao Liang berichtet in Berlin dann auch, dass er Lao Xia nach dem Dreh wieder getroffen hat und dass sein Gesundheitszustand sich mittlerweile stabilisiert habe. Seine größte Sorge sei nun, einen Job zu finden. Ein anderer von Zhao Liangs Protagonisten ist der 11-jährige Hu Zetao, der in Gu Changweis Film eine wichtige Rolle spielt. Selbst an Aids erkrankt überträgt der kleine Kerl seine persönlichen, oft bitteren Erfahrungen des Alleinseins und der Diskriminierung nun auf den Film. Zhao Liang filmt nicht nur am Set von „Tale of Magic“, er begleitet seine Protagonisten auch in ihre normale Lebensumgebung. Bei einem Essen in der Familie von Hu Zetao beobachtet er, dass der Vater dem Jungen jeden Bissen auftut. Warum er das mache, ob der Junge seine Stäbchen nicht in die von allen benutzte Schüssel tauchen dürfe, wollte der Regisseur direkt wissen. Zhao Liang belehrt nie, aber er schaut genau hin und hört zu, er will den Dingen auf den Grund gehen.

Der Mann mit der Kamera

Schon in den 90er Jahren hatte er immer eine Kamera dabei und war auf Materialsuche. Das war seine Arbeit, die er sehr ernst nahm – Sachen filmen. So sind seine Filme oftmals Langzeitdokumentationen. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren entstand der Film „Petition“ (上访, 1996 – 2009). Mit diesem Film wurde Zhao Liang 2009 nach Cannes eingeladen. Der Film hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck. Zhao Liang begleitet mit seiner Kamera Petenten, die aus ganz China in die Hauptstadt gekommen sind, um Beschwerde über die ungerechte Behandlung durch lokale Behörden einzureichen. Sie warten Monate, oft Jahre darauf, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Währenddessen hausen sie in einem aus Zeltplanen und Pappen selbsterrichteten Dorf der Petenten am Stadtrand. In den Mittelpunkt stellt er den Fall einer Mutter mit ihrer Tochter. Ihr Mann bzw. Vater verstarb nach Schlägen von offiziellen Vertretern des Staates. Die Tochter Xiaojuan ist zu Beginn des Films 12 Jahre alt, sie wächst heran, ohne regelmäßig eine Schule zu besuchen und ohne richtiges zu Hause. Erst als Erwachsene verlässt sie Beijing und die Mutter. Am Ende des Films sehen wir sie mit Mann und Kind die Mutter besuchen, die noch immer in Beijing auf die Wiederaufnahme ihres Falles wartet. Dazwischen sieht man wiederholt, wie die Petenten von gedungenen Schlägertrupps unter Druck gesetzt werden in ihre Heimatprovinzen zurückzukehren. Es sind meist die lokalen Kader, die Strafen fürchten, die solche Leute anheuern und nach Beijing senden. Die Beharrlichkeit der Petenten ist bewundernswert, aber auch gepaart mit Dickköpfigkeit. Später erzählte Zhao Liang, dass jede Sekunde Film es wert war, aufgenommen zu werden, auch wenn die Arbeit an dem Film für ihn oft schmerzlich war. Im Ordnen und Reorganisieren des Rohmaterials wird zwar ein persönlicher Zugang des Regisseurs zum Thema gezeigt, doch der Zuschauer selbst ist der Beobachtende, der sich eine eigene Meinung bilden muss. Seine Verantwortung als Dokumentarfilmer liegt darin, den Dingen auf den Grund zu gehen, von deren Existenz viele Menschen nicht einmal ahnen, so Zhao Liang.

(in: dnC 1/2011)

Berlinale 2011 – Keine Zeit für Wunder
Markiert in: