Auf dem Taiwan International Documentary Festival (TIDF) gab es gleich mehrere Reihen, die sich mit dem historischen und kinematografischen Gedächnis beschäftigen. Es waren hypothetische Erinnerungen, Versuche einer Rekonstruktion, weil sie oft nur aus Fragmenten von verlorenen oder nie fertiggestellten Filmen bestanden, aus Stückchen einer Filmgeschichte, die noch geschrieben werden muss. Wie soll man aber eine neue Gegenwart des taiwanischen Kinos herstellen, wenn seine Vergangenheit unsichtbar ist? Dieser Aufgabe widmet sich der Programmdirektor und Geschäftsführer der Documentary Filmmakers Union(纪录片工会) Wood Lin (林木材). Quentin Papapietro sprach am 7. Mai 2018 in Taipeh für die Cahier du Cinéma mit ihm.
Q.P.: Wie haben Sie die Reihe über das taiwanische Avantgarde-Kino der 60er Jahre und die Retrospektive zur Videokunst in Hongkong und Taiwan erarbeitet?
W.L.: Ich habe mit Sing Song-yong, einem Filmwissenschaftler aus Hongkong zusammengearbeitet. Er hatte mir vor einigen Jahren einen Artikel geschickt, in dem die chinesische Videokunst in Hongkong und Taiwan miteinander verglichen wurde. Er fand die Hongkonger Videos besonders spannend und fragte an, ob man nicht ein entsprechendes Programm für das Dokumentarfilm-Festival zusammenstellen könnte. Als ich die Filme in Hongkong gesehen hatte, interessierte mich daran besonders, dass sie Archivbilder benutzten. Als Taiwaner kenne ich die Geschichte aus unserer Perspektive gut, aber es ist spannend zu sehen, wie diese gemeinsame Geschichte jeweils erzählt wird. Die Filme waren bislang vor allem im Museumskontext zu sehen. Wir haben sie zum ersten Mal in einem Kinosaal gezeigt.
Q.P.: Die Geschichte Chinas wird hier von außen, also von außerhalb des chinesischen Festlandes geschildert …
W.L.: Uns geht es bei der Arbeit für dieses Festival immer um die Frage, was denn die Identität Taiwans ist, und welche Bindungen wir an das übrige China haben. Ich war oft auf unabhängigen Dok’fim-Festivals in China, aber die sind jetzt verboten. Seit 2012 haben sich die Fronten verhärtet und der Staat lässt keine kritischen Filme mehr zu. Für Wang Bing, der sehr bekannt ist, gibt es keine Probleme, aber für andere Filmemacher wird es immer schwieriger, sie stehen unter Beobachtung. Einer unserer Programmschwerpunkte will genau diesen Filmemachern eine Leinwand bieten. Aber genauso wollen wir Partner in Hongkong finden und es wäre genial, auch in Zukunft weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Q.P.: Wie haben Sie die Filme und Videos ausfindig gemacht?
W.L.: In Hongkong gibt es die Organisation Videotage, in der sich Künstler zusammenfanden, um dieses Erbe zu erhalten. Sie sammelt alles zur Videokunst seit den 1980ern. An sie habe ich mich gewandt mit der Bitte, ihre Filme zu sichten. Danny Ning-tsun Yung ist dort als der „Pate“, als Kopf der Bewegung bekannt. Und Elen Pau ist selbst Filmemacherin, deren Werke in der ganzen Welt gezeigt wurden. In Taipeh ist das eine Nummer kleiner. Hier ist Chen Chieh-jen der wichtigste Mann. Mit Geschichte des Dok’films in Taiwan kenne ich mich aus, das ist mein Spezialgebiet und ich wollte gern Dok’filme und Video verbinden, wollte damit experimentieren. Wenn ich das Programm mache, versuche ich, dass sich die Filme aus der Perspektive eines Kinos der Wirklichkeit aufeinander beziehen
Q.P.: Was war Ihre Absicht mit einer Reihe wie Taiwan Spectrum, die vergessene Filme aus den 1960ern wieder ausgräbt?
W.L.: Diese Reihe gibt es jedes Jahr, aber das Jahrzehnt der gezeigten Filme wechselt. Wir hatten schon die 1980er und 1990er Jahre.
In den 1960er Jahren erlebte das junge Kino in Taiwan eine Aufbruchstimmung wie auch anderswo in der Welt. Es gibt zwei Teile in dieser Reihe. Wohl am merkwürdigsten ist der Teil über die unsichtbaren Filme. Es sind Filme, von denen wir wissen, dass sie existiert haben, aber wir können sie nicht zeigen. Als Programmdirektor habe ich mir gesagt, dass es gut sei, diese verlorene Erinnerung wieder sichtbar zu machen, sei es durch Titel oder Zusammenfassungen, um wenigstens diese Spur festzuhalten. Zählt man die verlorenen und die noch erhaltenen Filme zusammen, wird einem die Größe dieser Bewegung erst bewusst. Es bleibt zwar eine Vermutung, aber immerhin.
Q.P.: Wie kann man die Geschichte dessen, was verschwunden ist, herstellen?
W.L. Wir haben viel recherchiert und waren erstaunt über zwei Spielfilme von Mou Tun-fei (牟敦芾): I didn’t dare to tell you (1969) und The End of the Track (1970). Beide Filme waren damals verboten und nur sehr wenige haben sie gesehen. Die Zensur hat nicht zugelassen, dass ein Lehrer sich in seine Schülerin verliebt bzw. im zweiten Film Homosexualität dargestellt wird. Ich vermute, das waren die Gründe für die Zensur, aber es gibt keine offiziellen Dokumente. Diese Filme sind selbst cinephilen Taiwanern nicht bekannt. Wir haben sie in den Archiven des Taiwan Film-Instituts gefunden. Sie sammeln sehr viel, haben aber leider keine Möglichkeit ihre Schätze regelmäßig zu zeigen. Die Leute wüssten gern, was da noch alles liegt, aber das ist etwas undurchsichtig. Die Filme, die wir dieses Jahr gezeigt haben, waren Weltpremieren nach 50 Jahren.
Q.P.: Was wollten die jungen Regisseure damals?
W.L.: In den 1960er Jahren gab es ein reges Interesse an europäischen und amerikanischen zeitgenössischen Filmen. Aber die konnte man damals in Taiwan nicht sehen. Die Regierung kontrollierte alles, es gab keine Redefreiheit und man kam schwer an Informationen aus dem Westen.Das änderte sich erst 1987. Aufgeklärte Zirkel um die Regisseure, die wir gezeigt haben, gaben eine Zeitschrift namens Theatre Quaterly heraus, in der sie Artikel, die in westlichen Zeitschriften erschienen waren, abdruckten. Sie kannten Godard und die Nouvelle Vague nur aus diesen Artikeln, hatten aber nie deren Filme gesehen. Das erklärt auch, warum die Filme, die wir gezeigt haben, nicht besonders experimentell oder avantgardistisch sind. Sie reflektieren das Taiwan der damaligen Zeit und das war schon viel. Heute sind experimentelle Filmemacher aus Taiwan sehr vom Westen beeinflusst und nicht besonders originell. Damals gab es wenigstens etwas vollkommen Eigenständiges. Ich hoffe, dass Regisseure heute sich von diesen Filmen inspirieren lassen. Das wäre wirklich mein Wunsch, denn ich denke, der Dokumentarfilm in Taiwan heute ist viel interessanter und vielfältiger als der Spielfilm.