Ich denke, es war eine der besten Entscheidungen, die Berlinale vom Sommer in den Winter zu verlegen. So muss man sich nicht ärgern, bei eventuell schönem Wetter im dunklen Kinosaal zu sitzen. Es gibt im Gegenteil nichts schöneres, als vor dem grauen Berliner Winter in den warmen Kinosaal zu flüchten und sich dort mitnehmen zu lassen auf Reisen in wärmere Jahreszeiten und ferne Länder, womöglich auch in Epochen, die man eigentlich nicht so gern wiedersehen möchte. So geht es mir mit den 80er Jahren. Es berührt einen noch immer peinlich, wenn man die fürchterlichen Klamotten wiedersieht. Aber in Monga, einem Stadtteil von Taipei, sahen die 80er anders aus, als in Berlin. Die Jungs tragen schmale Hosen und bedruckte Hemden, die bis zur Brust aufgeknöpft bleiben und Badeschlappen. Selbst die Frisuren sind nicht so alptraumhaft, wie in meinen Erinnerungen. Es ist eine coole, männliche Welt, in die Wenzi – Mosquito hineinwächst, eine Welt, in der Frauen lediglich als Witwen oder Prostituierte vorkommen. Er will dazugehören, will nicht von allen herumgeschubst werden. Monga ist reines Genrekino, ein Triadenfilm, in dem Nachwuchsgangs um die Vorherrschaft über die Straßen des Viertels kämpfen. Neben Freundschaft und Selbstbehauptung gibt es eine beginnende Liebesgeschichte; das Ganze gespielt von einem jungen Darstellerteam, unter ihnen Pop-Idol Ethan Ruan und Mark Chao als Mosquito.
Wer hier aufwächst, sucht sich in der kleinen Welt aus Macht, Bruderschaften und Korruption Respekt zu verschaffen. Das war so und das soll so bleiben. Dragon Lee, Monk, White Monkey und Ah Lan bilden die Prinzen-Gang. Zu ihnen stößt Mosquito. Er ist neu in Monga und an seinem ersten Schultag bekommt er gleich Ärger mit einer Bande Halbstarker. Als er sich geschickt wehrt, bieten ihm die vier von der Prinzen-Gang Schutz und einen Platz in der Bande, denn erst „fünf Finger bilden eine Faust“. Die Jungs sind so etwas wie die U21, üben sich im Kräftemessen mit ihren Rivalen. Noch haben die Alten das Sagen und allen voran Boss Geta, der ihnen Ehre und Tradition der Triaden beibringt und -, dass Schusswaffen etwas für Weicheier sind. Mosquito, der Gangster mit Gefühl, der ohne Vater aufwuchs und hier zum ersten Mal Freunde findet, der sich in eine Prostituierte verliebt, die er loskaufen will, ist bereit, Getas Vermächtnis fortzuführen. Aber in Monga, dem heutigen Wanhua, ist in den 1980er Jahren vieles im Umbruch. Es ist die Zeit, als in Taiwan das Kriegsrecht aufgehoben wurde. Neue Figuren erschienen auf der Bildfläche, Festlandchinesen drängen ins Geschäft der Triadenbosse. Die Veteranen werden aus dem Weg geräumt, mit Schusswaffen. Nicht die Ehre, sondern der Kampf um Macht lässt neue Zeiten hereinbrechen. Ein tödlicher Kampf in einer fremden, einer in sich geschlossenen Welt aus engen Gassen, Posen, satten Farben und Blut steht am Ende dieser Coming of Age-Story. Und nichts wird mehr sein, wie es war …
Der Film wird gerade als die Wiederauferstehung des taiwanischen Kinos gefeiert. Es ist der zweite Spielfilm von Doze Niu Chen-zer, der einst als Darsteller in den Filmen Hou Hsiao-hsiens bekannt wurde. In den ersten zwei Wochen nach seinem Kinostart in Taiwan hängte er – was die Zuschauerzahlen betrifft – Avatar ab, ein Beweis, dass spannendes und kommerzielles Kino „made in Taiwan“ kein Widerspruch ist.
Ebenfalls aus Taiwan kam der Debutfilm von Hou Chi-Jan One Day (You yi tian), ein experimentelles Melodram. Der Regisseur wollte die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit im Film durchbrechen. Singing ist eine junge Frau, die auf einer Fähre arbeitet. Sie hat immer einen Kompass bei sich, das einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben ist. Auf dem Schiff sieht sie einen Soldaten an der Reling stehen, der ihren Kompass in Händen hält. Beim zweiten Blick ist er weg. Sie rennt durch leere Gänge und in Kajüten, bis sie ihn wiederfindet. Der Soldat erklärt ihr, dass sie sich in einem Traum befinde, und dass sie beide eines Tages ein Paar sein werden. Die Zeitebenen geraten durcheinander, wir erleben Bruchstücke der Geschichte von Singing und Tsung. Unschärfen auf visueller Ebene dienen als vermeintliches Indiz, um Traum und Realität auseinanderzuhalten. Bevor Tsung als Soldat die Fähre nach Kinmen besteigt, büffelt er in einem Studienzentrum für die Prüfung. Singing folgt ihm herher. Ein Kritiker beschrieb dieses Set sehr hübsch bildhaft als Bücherfresszellen. Wie die Fähre sind auch die kleinen Lernnischen Orte des Schlafes. Singing bittet Tsung sogar, sie in einer halben Stunde zu wecken. Ist das Traum oder Wirklichkeit oder Traum im Traum? Sicher scheint nur: Wo Leute schlafen, da träumen sie. Und wovon träumt Singing? Diese Frage beschreibt der Regisseur als den Ausgangspunkt seines Filmes über eine Begegnung, bei der Träume die Beziehung und deren tragisches Ende vorwegnehmen und darauf zurückblicken. Das ist ein durchaus interessanter Ansatz, doch leider trägt die Geschichte den Film nicht ganze 93 Minuten lang.
Grenzen verwischt auch der Forumsbeitrag Crossing the Mountain (Fan shan) von Yang Rui. Hier sind es die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Doch erleben wir nicht Bruchstücke einer Geschichte, sondern viele Geschichten, die eventuell unser Bild vom Leben der Wa formen. Der Film besticht durch Exotik und Experimentalität. Wie in einem Kaleidoskop werden Bilder von Langsamkeit und zäh fließender Zeit gezeigt, von einem Lebensrhythmus, der dem urbanen diametral entgegengesetzt scheint. Die Aufnahmen erschließen langsam ein Bild vom Leben in der burmesischen Grenzregion. Ein Leben, auf dem die Schwere der Vergangenheit und der Gegenwart lastet. Ein Dorf der Wa im Dschungel, tropical malady: ein Schwein wird beschworen viel Fleisch zu geben, immer wieder durchstreifen die Filmfiguren Berge und Wälder, die jungen Leute treffen sich auf einem Dorfplatz, im Hintergrund tanzen und singen ein paar ältere, daneben jene hässlichen Neubauten, die man am Rande vieler chinesischer Kleinstädte findet, ein junger Mann spielt Blindekuh im Wald und findet das Mädchen nicht, was er sucht, eine alte Frau erzählt vom Tod ihres Geliebten, einem Opfertod, ein Fernseher wird zersägt, die Polizei untersucht plötzliche Granatenexplosionen, die Granaten sind russischer Herkunft, Totenschädel zwischen den Felsen … Die Regisseurin findet Bilder, um einen Geisteszustand und die daraus folgende Lebensweise junger Wa zu zeigen. Sie nehmen die Geschichten von früher mit in ihr heutiges Leben, versuchen in der Verbindung von Tradition und Moderne die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Yang Rui, die aus Liaoning in Nordchina stammt, hat 3 Jahre gemeinsam mit den Wa gelebt. Bis 2002 hat sie für das chinesische Fernsehen als Dokumentarfilmregisseurin gearbeitet. Auch Crossing the Mountain scheint zunächst reines Dokument, doch hat sie für den Film ihre Beobachtungen bei den Wa fiktiv verdichtet. Als Drehbuchberater und um den Tonfall der gesprochenen Erzählung zu wahren, stand ihr der Dichter Xiao Kaiyu zur Seite. Szenen aus dem tropischen Leben gleiten am Zuschauer vorbei. Aber die surrealen Impressionen Yang Ruis klären nicht auf. Crossing the Mountain ist ein schwer zugänglicher Film, der getragen wird von langen Kameraeinstellungen, der fasziniert, obwohl er keinen herkömmlichen Erzählstrategien gehorcht. Die Bilder bleiben im Kopf, auch wenn sie sich nicht immer erschließen.
Vom tropischen Südwesten Chinas geht es in den Nordosten, an die Grenze zwischen China und Nordkorea. Schneebedeckte Berge und der zugefrorene Tumen-Fluss bilden das erste, lange stehenbleibende Bild. Willkommen in der Realität – zumindest was die Jahreszeit anbelangt. Wenn der Grenzfluss zugefroren ist, kommen häufig Nordkoreaner auf der Suche nach Essen oder einem Leben ohne Hunger über den Fluss. Auf der chinesischen Seite herrscht zwar Armut, aber die Menschen hungern nicht. Als zum Trocknen aufgehängte Fische und gar Ziegen verschwinden, wird den Nordkoreanern mit zunehmendem Argwohn begegnet. Quäkende Lautsprecherdurchsagen im Dorf mahnen, wachsam zu sein. Die chinesische Polizei geht verstärkt gegen illegale Grenzgänger und Schlepper vor. Der Film Dooman-River erzählt die Geschichte von dem 12-jährigen Chang-ho, der eines Tages in einem leerstehenden fensterlosen Haus ein paar junge Nordkoreaner antrifft. Er bringt ihnen Essen im Tausch gegen das Versprechen, dass der gleichaltrige Jeong-jin mit den Kindern des Dorfes Fußball spielt und der Mannschaft hilft, endlich mal zu gewinnen. Der hält auch sein Versprechen und die beiden Jungs freunden sich an. Chang-ho nimmt ihn mit nach Hause, wo er mit seiner stummen Schwester und dem Großvater lebt. Chang-hos Mutter arbeitet in Südkorea, um Geld für die Familie zu verdienen. Jeong-jin bekommt bei Chang-ho zu essen und kehrt immer wieder nach Nordkorea zurück, um seine kranke Schwester zu versorgen. Als Chang-ho erfährt, dass seine Schwester von einem Nordkoreaner vergewaltigt wurde, beginnt auch er – wie die anderen Dorfbewohner – die Nordkoreaner zu hassen. Er geht zum Fluss und schlägt jeden, der rüber auf die chinesische Seite will, mit einem Knüppel, auch seinen Freund. Wie die anderen glaubt auch er, alles Übel komme aus Nordkorea.
Jeong-jin hält sein Versprechen und kommt zum entscheidenden Fußballspiel. Doch er wird von der Polizei in Handschellen abgeführt. Jemand hat ihn verraten. Er muss denken, dass es Chang-ho war, der ihn gerade noch verprügelt hat. Und Chang-ho weiß das in diesem Moment, aber er weiß nicht, wie er dem Freund helfen kann. Also steigt er auf das Dach des leerstehenden Hauses: es geht um die Wahrheit, die Freundschaft. Er will beweisen, dass er es nicht war … und springt.
Wie schon bei seinem letzte Film Hyazgar (Desert Dream), der 2007 auf der Berlinale lief, setzt Zhang Lu auch hier wieder minimalistische Mittel ein. Lange Kameraeinstellungen fangen die frostige Landschaft ein, die Kälte scheint die Bewegungen und Aktivitäten der Leinwandfiguren geradezu zu verlangsamen, es wird wenig gesprochen. Einzig die Kinder boten einen Hoffnungsschimmer auf Bewegung, auf Veränderung. Doch auch am Ende dieses Films von Zhang Lu steht die Vergeblichkeit, die Unmöglichkeit aus festgefahrenen Mustern auszubrechen.
Dooman-River, wie auch Echoes of the Rainbow (Shui Yuet Sun Tau) liefen beide im Generation-Programm und gehören zu den traurigsten Filmen, die ich auf dieser Berlinale gesehen habe. Natürlich stellte sich mir gleich die Frage, warum die traurigsten Filme ausgerechnet im Kinderprogramm laufen: Entweder dachte sich die Auswahljury, wenn ein Kind im Mittelpunkt des Filmes steht, dann muss es sich um einen Kinderfilm handeln. Oder aber sie haben eine Erziehungsauftrag, nämlich den verwöhnten und verweichlichten westlichen Gören zu zeigen, dass das Leben durchaus ernst und hart ist.
Alex Law nimmt und mit ins Hongkong der 60er Jahre, wo er selbst aufgeachsen ist. Es ist seine eigene Biografie, die er hier auf die Leinwand bringt, und wir sehen ihn als 8-jährigen. Er wohnt mit seinen Eltern und dem großen Bruder in einer der damals typischen Honkonger Gassen, in denen sich das Leben wie in einer Großfamilie abspielt. Die Eltern sind beschäftigt, sie müssen die Familie ernähren und haben für unsere heutigen Verhältnisse wenig Zeit für ihre Kinder. Dem großen Bruder fliegt alles zu: gute Leistungen in der Schule und im Sport, sowie die Herzen der anderen. Der kleine Bruder bewundert ihn, ist stolz auf ihn und weiß, dass er immer zu ihm gehen kann. Bei ihm ist er geborgen, wie unter dem runden Fischglas, was er sich wie einen Astronautenhelm über den Kopf stülpt. Der Film zeichnet bis dahin ein liebevolles Portrait vom harten Überlebenskampf einer Familie in einfachsten Verhältnissen. Doch plötzlich erkrankt der Bruder und stirbt an Leukämie. Die Zeit ist ein Dieb, nimmt Dinge fort, die nie wiederkehren. Darauf spielt der Originaltitel, in Pinyin: Suiyue shentou, an. Echo des Regenbogens ist ein berührender Rückblick auf eine verschwundene Zeit. Alex Law konnte den Film noch am Originalschauplatz drehen, was nicht einfach war, da die meisten Viertel mit der für die 60er Jahre typischen Architektur längst abgerissen wurden. Der Wing Lee Street, wo der Film gedreht wurde, droht das gleiche Schicksal. Die Filmemacher hoffen, durch den Filmerfolg die Straße vor dem Abriss zu retten. Mehrere der Schauspieler im Film, darunter die Darsteller der Eltern Simon Yam (Ein Grund, diesen Film zu sehen!) und Sarah Ng, sowie der Cantopop-Star Aarif Lee und Buzz Chung, die die beiden Kinder spielen, wurden in Hongkong für den Best Actors Award nominiert. Dem Humor des Drehbuches, dem bewussten Einsatz eines Erzählers und ihrem distanzierten Spiel ist es zu verdanken, dass der Film nicht in die pure Sentimentalität abrutscht. Die Mitglieder der Kinderjury zeichneten den Film mit dem Gläsernen Bären aus. In der Begründung der Jury hieß es: „In diesem Film verbreitet sich durch eine liebevolle Ausstattung, ein dazu passendes Licht und die gefühlvolle Musik eine besondere Atmosphäre. Die herausragenden Schauspieler haben uns eine berührende Geschichte zweier Brüder auf eindrucksvolle Weise nahe gebracht.“
Auf französische Art romantisch und leicht kommt der Film Au revoir Taipei (Yiye Taibei) daher.
Jeden Abend sitzt Kai vor den Regalen mit den Französisch-Lehrbüchern in einem Buchladen. Nie kauft er etwas. Er lernt Französisch. Er will nicht wahrhaben, dass es aus ist mit seiner Freundin, seitdem diese sang-und klanglos nach Paris entschwand. „Sans vous Taibei est très triste. Très très triste.“ Für sie lernt er französisch und will ihr folgen. Dazu geht er einen Deal mit einem altgewordenen Gangster aus der Nachbarschaft ein. Der kauft ihm das Flugticket, wenn Kai ein Päckchen für ihn nach Paris mitnimmt. Die letzte Nacht, die Nacht der Übernahme des Päckchens, ändert jedoch alles. Da heftet sich der Neffe des Gangsterbosses mit seinen orange gekleideten Möchtegern-Mafiosi an Kais Fersen und auch die Polizei bekommt Wind von der Sache mit dem Päckchen, und ein Polizist mit Liebeskummer greift in die Geschichte ein. Kais naiver Freund Gao wird von den Orangenen gekidnappt und Kai ist zusammen mit der Buchhändlerin Susie auf der Flucht und zugleich auf der Suche nach Gao. Mit Au Revoir Taipei drehte Arvin Chen eine Liebeserklärung an die Stadt, zeigt ihre vielen Facetten, ihre rauhe Schönheit und Magie. So ist es nicht verwunderlich dass die koreanisch-deutsche Produzentin des Films, In-Ah Lee, Wim Wenders als Executive Producer gewinnen konnte. „Arvin und ich teilen die Liebe zu Filmen, die Städte portraitieren“, sagt Wim Wenders. Der Zuschauer erlebt einen aberwitzigen Genremix aus Wong Kar-wei, Screwball-Comedy und Romanze: Verfolgungsjagden im nächtlichen Taipei mit seinen spärlich beleuchteten Gassen und den Nachtmärkten, uncoole Gangster und deren haarsträubende Aktionen, Versteckspiel zwischen Tänzern im Park. Hin-und hergerissen zwischen Spannung und Slapstick wünscht man sich, dass diese Geschichte nie enden möge, und dass Kai nicht nach Paris fährt. Und am Morgen steigt er ins Taxi zum Flughafen. Die Anfangsszene wiederholt sich scheinbar. Damals fuhr Kais Freundin ab. Jetzt winkt Susie dem Taxi hinterher. Doch Kai ist zur Vernunft gekommen und bleibt. Er hat sich verliebt. Am Ende tanzen Kai und Susie und die Kunden im Buchladen vor Glück.
Die erwähnten Filme schildern allesamt Erfahrungen und Erlebtes fiktional verdichtet. Individuell ganz unterschiedlich erzählen die Filmemacher dabei von den Umbruchsitutionen ihrer Protagonisten und bleiben nah an ihnen dran. Es war eine lohnenswerte Entdeckungsreise. Schade ist – wie jedes Jahr, dass man die meisten Filme im Kino nicht wiedersehen wird. Also hilft nur, sich die Namen der Regisseure zu merken und auf künftige Filme von ihnen gespannt zu sein.
(dnC 1/2010)