Yang_24654_MR1.inddIm Frühjahr schwimmen die Karpfen flussaufwärts bis zu einem „Drachentor genannten Wasserfall. Nur wenige schaffen es, die Hürde zu überspringen. Diese fliegenden Karpfen, die sich der Legende nach in Drachen verwandeln, sind in China Symbole des sozialen Aufstiegs.

Von diesem Aufstieg und den enormen Veränderungen eines ganzen Landes ist Xifan Yang persönlich betroffen, denn ihre Eltern waren die Karpfen, die zu fliegen versuchten, die ihr ein Leben ermöglichten, für das sie ihnen dankbar ist. Sie ist das, was die Chinesen eine Banane nennen: innen weiß und außen gelb. Im Alter von 4 Jahren kam sie nach Deutschland, wo ihre Eltern studierten. Ihre chinesische Familie sah sie in den Sommerferien und nachdem sie größer geworden war und ihr ihre Herkunft aus einem vor kurzem noch ärmlichen Land nicht mehr peinlich war, wollte sie mehr wissen, bis sie 2011 schließlich in ihre eigentliche Heimat, wie sie sagt, zurückzog. Hier in Shanghai tauchte sie ein in eine hypermoderne, aber auch widersprüchliche Welt und sie tauchte in ihre Familiengeschichte ein.
Sie gehört zu einer globalisierten Generation, die sich überall zu Hause fühlt. Anders als Generationen vor ihr, die oft vergebens für Ideale kämpften oder aber, wie ihre Eltern, die alten Wurzeln kappte, ohne neue zu schlagen. Gibt es für eine globalisierte Generation überhaupt die eigentliche Heimat? Solche kleinen Lücken tun sich bei der Lektüre des öfteren auf, Yang lässt sie stehen: es ist, wie es ist.
Zusammengehalten wird diese Geschichte von Großvater Peng. Sein Leben lang hat er davon geträumt, Sänger zu werden, manchmal kam er dem Traum näher, selten so nah, wie 2013 als seine Enkelin, die Autorin, sich mit ihm nach Peking aufmachte, denn er wollte sich bei einer Castingshow bewerben. Ein bekannter Musikproduzent, der in der Jury saß, sollte ihm helfen. Doch die Reise war vergeblich, denn sie trafen ihn gar nicht an. Gab es denn den Bekannten überhaupt, der einen Termin für sie ausgemacht hatte? Yang Xifan hegt leise Zweifel. Aber, so Großvater Peng, was soll schon so ein kleiner Rückschlag bedeuten?
Er hat größere erlebt: Nachdem er sich hoffnungsfroh der Armee Maos angeschlossen hatte, wurde er Krankenpfleger, Radioreporter und Zeitungsredakteur. Doch dann fiel er wegen seines Eigensinns in Ungnade und wurde zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, während der anschließenden Kulturrevolution musste er sich von einem 13 jährigen Rotgardisten öffentlich demütigen lassen.Inzwischen hat er eine Familie gegründet, die Generation der Eltern der Autorin erlebt den hoffnungsfrohen Neuanfang nach der Kulturrevolution und fast nebenbei erfahren wir, was diese Generation prägen sollte: rationierte Textilien, die Künstlergruppe „Sterne“ oder die hier Nebeldichtung genannte, auch als obskure Lyrik bekannte Dichtung, der Traum vom eigenen Fahrrad, was in einer chinesischen Kleinstadt dem Besitz eines Porsche in etwa gleichkam, Chen Kaiges 1984 enstandener Klassiker „Gelbe Erde“, die Fernsehserie „Flusselegie“ und natürlich die Studentendemonstrationen 1989 auf dem Tian’anmenplatz. „Als die Karpfen fliegen lernten“ berichtet von den Abgründen des 20. Jahrhunderts in China, einer Zeit, die gar nicht allzu lange her ist.
So unterstreicht der Titel den rasanten Wandel der letzten Jahrzehnte. Ein Wandel, von dem erst die Generationen nach Großvater Peng profitieren können. Doch der bleibt auch im fortgeschrittenen Alter der Kommunistischen Partei zugetan, die ihm zwar viel Leid zugefügt, aber immerhin auch die letzten 30 Jahre geschenkt habe.
Dieses unerschütterlich vorwärtsgewandte Denken ist so ganz anders, als wir es im Westen kennen. Es ist das Plus der Autorin, dass sie beide Denkungsarten kennt und die Unterschiede aufzeigt. Der Leser erfährt sie beispielsweise über ihr Erstaunen, wenn etwa die leidenschaftlichen Demonstranten von 1989 plötzlich kein Wort mehr über diesen Teil der Geschichte verlieren oder wenn der Großvater die Leiden eines langen Lebens zu vergessen scheint.
„Als die Karpfen fliegen lernten“ ist gewiss nicht das erste Buch, was sich dem Thema zuwendet, aber die Erzählungen aus erster Hand werden seltener. Wer dann das Bild prägen wird, möchte man sich nicht ausmalen, gerade der dokumentarische Ansatz macht Bücher wie dieses kostbar.

 

Xifan Yang: Als die Karpfen fliegen lernten. China am Beispiel meiner Familie, 336 Seiten, Hanser Berlin 2015, € 19,90

in: Ruizhong 2/2015

Wenn Träume nicht wahr werden, können sie auch nicht platzen