Um es gleich vorwegzunehmen: Das ist eins der schönsten Bücher seit langem, die ich in der Hand hatte. „Made in China“ sind poetische Reiseaufzeichnungen, Beobachtungen, Gedanken und Lektüren, Erinnerungen in sechs Städten von Lea Schneider. Niemand sollte das Buch links liegenlassen, nur weil auf dem Titel Gedichte: Lea Schneider steht.
Es ist ein offener Gedichtbegriff, der die lyrische Prosa dieses Reisetagebuchs einschließt. Ich war überrascht, wie dünn das Buch ist, als ich es auspackte. Und doch hat es 103 Seiten, deren ungerade Seitenzahlen auf Chinesisch geschrieben sind, die geraden sind Arabisch beziffert, wie wir es kennen. Unten auf jeder Seite steht auch gleich, in welcher Stadt die Autorin gerade unterwegs ist. Im ersten Moment stand mir eine ungewohnte Unübersichtlichkeit gegenüber, die sich schnell ins totale Gegenteil verkehrte: Deutsch, Chinesisch, Zeichnungen, graue Kästen, die sich als übermalte Schriftzeichen herausstellen, und für diejenigen, die Chinesisch lesen können entschlüsselbar bleiben, Verweise auf Lektüren in der Marginalspalte. Überhaupt: ein Buch mit Marginalspalte – ich bin hingerissen.
Die Illustrationen steuerte Yimeng Wu bei, mit der sich Lea Schneider nach der 2016 im gleichen Verlag erschienenen „Chinabox“ erneut zusammengetan hat. Die Gestaltung des Bandes lag in den Händen von Andrea Schmidt vom Verlagshaus Berlin. Durch die assoziative Reise zieht sich immer wieder das Thema Sprache und Übersetzung: Wie funktioniert Chinesisch? Lässt sich alles in einer anderen Sprache sagen, weil es für jedes Wort ein Synonym gibt?
Nanjing – Shanghai – Hongkong – Taibei – Chengdu -Beijing, auf der Doppelseite zu Beginn jedes Kapitels stehen die Schriftzeichen grau, übermalt und schemenhaft, graue Städtekästen also, die sich auf den folgenden Seiten mit Worten, Erinnerungen, Eigenschaften füllen. Da sind die Nanjinger Platanen, das Wellblech in Taibei, die Himmelsbrücken von Chengdu – man muss die Städte nicht bereist haben, um ein Bild und Gefühl für sie zu bekommen.
Ich bewundere die konsequente, fast trotzige Verwendung weiblicher Formen für Berufs- und Gattungsbezeichnungen, muss schmunzeln, bin froh, dass es bei maskulin / feminin bleibt, und bin doch manchmal erstaunt ob der mitunter provokativen Unlesbarkeit, die hier eine mit Sprache Vertraute setzt. Ja, man sollte auch darüber nachdenken, was eine Übersetzung in andere Sprachen daraus machen würde. Es gibt Worte, schreibt die Autorin auch, die eine Sprache nicht spricht. Denn hinter den Worten stehen Denkmodelle, die mitunter sehr verschieden voneinander sind. Die Worte klingen nach, die Zeilen in dem Bändchen laden ein zum Vor- und Zurückblättern. „Made in China“ ist mehr als die 103 Seiten, erst recht, wenn man den Verweisen in der Marginalspalte nachgeht und sie mitliest.
made in china. Gedichte: Lea Schneider, Illustrationen: Yimeng Wu, Verlagshaus Berlin 2020, 17,90 €.
in: Ruizhong 2/2020, Seite 31