Das Coronavirus hat uns bereits seit drei Monaten im Griff, rechnet man vom ersten diagnostizierten Krankheitsfall am 8. Dezember an. Seit der Abriegelung von Wuhan am 23. Januar können viele Menschen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Das ganze Land blickt auf Wuhan und versucht die Situation in der Stadt zu begreifen.

Von Liu Lutian

Ein Journalist der Southern Weekly zitierte in seinem Bericht über Wuhan Tolstoi, der meinte, das einfache Wissen um die eigene Vergänglichkeit sei etwas völlig anderes als Tag für Tag zu spüren, dass man dem Tod näherkommt.

Wir wollen uns mit neun persönlichen Geschichten dem Thema Verlust nähern. Natürlich wird es nicht immer gleich um den Tod gehen. Manche Verluste erfahren wir körperlich, andere sind materiell oder ideell. Letztere sind vielleicht am schwersten zu beschreiben und verdienen darum unsere besondere Aufmerksamkeit.

Das hier ist die erste Geschichte.

Die 24jährige Ye Qi hat einen Monat ohne Unterbrechung gearbeitet. Zum ersten Mal hörte sie Ende Dezember von dieser plötzlich aufretenden Lungenentzündung, als der Augenarzt Li Wenliang auf WeChat berichtete, dass sieben Patienten mit Sars-ähnlichen Symptomen vom Huanan-Markt eingeliefert worden seien. Das Krankenhaus ist nicht mal zwei Kilometer von diesem Markt entfernt. In den umliegenden Apotheken wurden Atemschutzmasken knapp und ihr Preis stieg. Medizinische Schutzmasken gab es gar nicht mehr, stattdessen bekam man pro Haushalt 40 einfache zugeteilt.

Ye Qi ist eigentlich Krankenschwester auf der nephrologischen Station im Houhu-Klinikum, das zum Zentralkrankenhaus gehört. Sie steht jeden Morgen um halbacht auf, fährt 20 Minuten mit dem Rad zur Arbeit, arbeitet von 8 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr. So war es vier Jahre lang. Die dreiköpfige Familie konnte von ihren Ersparnissen eine Wohnung kaufen und die Welt schien in Ordnung zu sein. Bis zum 16. Januar.

An jenem Tag wurde Ye Qi mitgeteilt, dass sie auf die Intensivstation für Atemwegserkrankungen versetzt werde. Alle zwölf Betten dort waren belegt. Die Patienten litten an Atemnot, einer hatte außerdem Diarrhö und musste häufig sauber gemacht und umgebettet werden, vor allem aber trug das gesamte medizinische Personal Schutzanzüge. Das hatte Ye Qi in all den vier Jahren noch nie erlebt. Das bedeutete, dass die Lungenentzündung von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte. Wieder zu Hause versuchte sie ihren Eltern den Ernst der Lage zu erklären, aber das nützte nichts. Sie gingen weiterhin ohne Mundschutz vor die Tür und fuhren sogar noch zu einem Familientreffen.

Vier Tage später wurde die Houhu-Klinik zum Schwerpunkt-Krankenhaus für die Behandlung von Covid-19-Fällen erklärt. Alle anderen Patienten wurden verlegt. Innerhalb Pneumologie wurden vier Abteilungen gebildet. Alle übrigen Stationen und Büros werden für Fieberpatienten genutzt. Jede Abteilung hat 40 Betten, in Spitzenzeiten auf 50 erweiterbar. Die Schutzanzüge für das medizinische Personal sind einfach zu wechseln, aber um Material zu sparen, wurden Sechs-Stunden-Schichten eingeführt. Ye Qi arbeitete nun entweder von 8 bis 14 Uhr oder von 20 bis 2 Uhr. Sie musste sich daran gewöhnen, Windeln und eine Druckstellen hinterlassende Schutzbrille zu tragen.

Und noch etwas war schwer für sie: Einige ihrer früheren Dialysepatienten baten sie um Hilfe auf der Suche nach freien Betten. Sie müssen zwei mal wöchentlich zur Dialyse, eine Verzögerung könnte lebensgefährlich sein. Sie finden aber keine Dialyse-Plätze, weil diese und andere Behandlungen zweitrangig geworden sind. Doch auch Ye Qi kann nichts machen, sie ist nur Krankenschwester.

Auf der Intensivstation gab es einen Patienten, der sie beschämt fragte, ob man ihm einen Teil der Behandlungskosten erlassen könne, denn die finanzielle Lage seiner Familie, sei nicht so gut. Ye Qi wusste nicht zu antworten. Erst am 22. Januar wurde die Kostenübernahme für diagnostizierte Corona-Patienten geregelt, aber dieser Intensiv-Patient war schon verlegt worden. Im Krankenhaus Nr. 7 hatte eine schwangere Frau die Behandlung abgebrochen und verstarb nur wenige Stunden später. Sie hatte auf der Intensivstation schon fast 25000 Euro (200000 RMB) ausgegeben ohne Hoffnung auf Erstattung. Ihre Lunge war nämlich nicht befallen, deshalb gab es keine eindeutige Diagnose bis zu ihrem Tod.

Nachdem die Stadt am 23. Januar abgeriegelt wurde, brach der öffentliche Nahverkehr zusammen. Der Arbeitsweg wurde besonders nachts zum Problem. Die Eltern machten sich Sorgen und der Vater konnte manchmal nicht mehr schlafen. Dann fuhr er mit dem Rad zum Krankenhaus und holte Ye Qi ab. Wenig später wurden Fahrgemeinschaften von Freiwilligen organisiert, so lernte Ye Qi einen jungen Mann aus der Nachbarschaft kennen, der sie täglich zur Arbeit brachte und abholte. Er war absolut zuverlässig, selbst als später Gerüchte aufkamen, dass einige dieser freiwilligen Fahrer sich angesteckt hatten oder sogar gestorben waren.

Bis zur Nachricht von Li Wenliangs Tod verspürte Ye Qi keine Angst. An jenem Tag hatte sie frei und stieß im Netz auf die Meldung. Das Houhu-Krankenhaus hatte insgesamt über 2000 Beschäftigte, Ye Qi kannte Li Wenliang nicht persönlich, aber sie erinnerte sich an seine WeChat-Posts. Jeder sprach nun davon und Ye Qi dachte daran, wie jung er war und dass es ihr womöglich genauso ergehen könnte.

Ye Qi kennt bisher keinen Kollegen, der sich angesteckt hat. Aber es heißt, die Verluste im Zentralkrankenhaus seien enorm. Ein Arzt berichtet von über 200 Ansteckungen und mehreren Todesfällen. Es würden Lungenmaschinen eingesetzt, die Orthopädie sei verwaist in der Tumorabteilung arbeiteten nur noch wenige Leute.

Ye Qi weiß das alles nicht so genau. Sie ist noch relativ optimistisch. Nur wenn sie sieht, wie der Herzschlag ihrer Patienten auf dem Überwachungsmonitor zu einer geraden Linie wird, kommen ihr die Tränen. Vielleicht ist sie weniger panisch als andere in dieser Situation, weil sie schon früh mit dem Tod konfrontiert wurde. Als sie gerade mit ihrer Schwesternausbildung fertig war, verunglückte ihr Vater, der im Straßenbau arbeitete,und hatte eine Gehirnblutung. Ye Qi, die damals noch im Praktikum war, kümmerte sich mit ihrer Mutter über ein halbes Jahr aufopferungsvoll um den Vater. Weil das Geld knapp war entschieden sie sich damals gegen eine Operation. Bis heute ist das Blutgerinnsel nicht verschwunden und der Vater hat manchmal Gleichgewichtsprobleme. Seitdem weiß sie, ein ganz normales Leben zu schätzen.

Ein Rettungsteam aus Gansu übernahm Ende Februar die Intensivstation und Ye Qi hatte endlich mal eine Woche frei. In letzter Zeit denkt sie öfter an ihre Kindheit. Der Vater war landauf, landab im Straßenbau eingesetzt. Einmal brachte er von weither einen riesengroßen Teddy für sie mit. Als sie sah, dass es im Laden gegenüber ja die gleichen gab, erklärte der Vater, dass sie mitnichten gleich seien, denn nur der von ihm habe auch Gefühle.

Ye Qi sehnt sich nach ihren Freunden, die in einem anderen Stadtteil wohnen, sie hat sie schon drei Monate nicht mehr gesehen. Sie hofft, dass sich das Leben bald wieder normalisiert.

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