Jia Zhangkes Reflexionen über das heutige China mäandern seit jeher zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm, dokumentarischem Spielfilm und inszeniertem Dokumentarfilm. Auch sein jüngstes Werk zum 70. Jahrestag der VR China ist ein Hybrid, da bleibt er sich treu, ein Dokumentarfilm mit inszenierten Passagen. Swimming out till the see turns blue (一直游到海水变蓝 ) ist ein Film über das Land und doch nicht über Bauern. Vier Schriftsteller verschiedener Generationen erinnern an die letzten 70 Jahre. Das Verbindende: sie schreiben über den ländlichen Raum bzw. sind abseits der großen urbanen Zentren aufgewachsen. Jia Zhangke fasst damit den Raum ins Auge, der einst den Großteil des Landes ausgemacht hat.

In 18 Kapiteln mit griffigen Titeln, wie Essen, Reise, Mutter etc. erzählen Jia Pingwa (贾平凹), Yu Hua (余华 ) und Liang Hong (梁鸿) von ihrem Leben in den 70 Jahren Volksrepublik. Der älteste der vier Schriftsteller, Ma Feng (马烽), ist bereits tot und kommt darum vermittelt über Mitglieder seiner Familie zu Wort. Meist hören wir Erinnerungen an Entbehrungen, Verlust und Bitternis. Umso erfrischender ist es deshalb, humorvollen und lustig-bitteren Geschichten Yu Huas zu lauschen. Als er klein war und das Meer sah, wunderte er sich, denn es war gelb. Aber die Lehrer hatten ihm gesagt, das Meer sei blau. Also wollte er so lange hinausschwimmen, bis es blau würde. Seine Sehnsucht und Neugierde gaben dem Film letzlich den Titel, nachdem es auch trocknere Versionen wie So close to my land gab. Mit seiner Vielfalt an Materialien überfordert er den mit chinesischer Geschichte und Literatur nicht so vertrauten Zuschauer. Die Wechsel zwischen den Schriftstellerinterviews, Straßenszenen, die Kapitel beschließenden Gedichtrezitationen, sowie Schriftstellerstatements am Rand eines Kongresses in Jias Heimatstadt verwirren eher und scheinen wie der verzweifelte Versuch, der Fülle an Material noch schnell bis zur Berlinale eine Struktur zu geben. Wie schon in anderen Filmen verdient die Musik auch diesmal besondere Aufmerksamkeit. Man hört traditionelle Opernstile, sie verorten die Erinnerungen. Man müsste sich halt damit auskennen, um nicht bloß „chinesische Oper“ zu hören. Aber „Nessun Dorma“ erscheint dann doch wie ein Fremdkörper, emotionalisierende Filmmusik à la Mainstream-Kino in Hollywood wie China – doch das ist vielleicht nur meine westliche Empfindung. Das Leben in den siebzig Jahren war zwar ein langer, aber keinesfalls ruhiger Fluss. Liang Hong sucht ihn, den Fluss ihrer Kindheit, mit dem für sie alle Schönheit begann.

Einen ebenfalls ländlichen Raum nimmt Days of Cannibalism ins Visier. Tiboho Edwin hatte zuerst einen Western im Kopf, deshalb gibt es Pferde, Berge, Cowboys und statt des Saloons von Chinesen geführte Lebensmittelshops. Days of Cannibalism ist also dokumentarisches Genrekino. Der Film zeigt Chinesen, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Lesotho kamen. Wahrscheinlich hatten sie dabei nicht die atemberaubende Berglandschaft dieses inmitten Südafrikas gelegenen Königreiches im Blick. Hier betreiben sie meist kleine Lebensmittelmärkte. Für die Einheimischen sind sie die Reichen und werden als Eindringlinge gesehen. Der lokale Radiomoderator versucht gut gelaunt zu vermitteln, indem er China, Sprache und Verständigung thematisiert. Im kargen Hochland leben die Menschen traditionell von der Viehzucht. Doch marodierende Kuhdiebe wittern bessere Geschäfte. Aber Kühe stehlen, auch das ist Kannibalismus. Der im Film gezeigte anschließende Gerichtsprozess gegen die Viehdiebe ist ein Reenactment. Als wir mit dem Kamerateam plötzlich Zeugen eines Überfalls auf einen der chinesischen Lebensmittelmärkte werden, ist das in Echtzeit dokumentiertes Drama, in dem die Kannibalen kannibalisiert werden, um im Bild zu bleiben. Noch werden hier im Hochland die Gesetze der Prärie gelebt. Wie wird man sich aber in siebzig Jahren an diese Suche nach einem besseren Leben erinnern?

Die Ungleichheit von arm und reich und ein anderer Migrationsstrom führen noch einmal nach Asien. Lei Yuanbin (雷远彬) ist Filmemacher aus Singapur und I dream of Singapore bereits sein vierter Film. In Singapur sind mehr als 70% der Bevölkerung chinesischstämmig. In diesem Fall sind es nicht die Chinesen, die für den Traum vom besseren Leben auswandern, sondern Bangladeshis, die nach Singapur wollen. Sie errichten Singapurs glitzernde Wolkenkratzer. Für sie ist Singapore das, was in Europa der amerikanische Traum war. Wir sehen Feroz, der nach einem Arbeitsunfall auf seine Abschiebung wartet, denn man braucht ihn nicht mehr. Begleitet wird Feroz von Ethan Guo, einem Sozialarbeiter und Manager von TWC2, Transient Workers Count Too. Die NGO tritt für die Durchsetzung grundlegender Rechte für Migranten ein, die ihnen oft vorenthalten werden. Ein anderer Arbeitsmigrant aus Bangladesh schreibt, damit das Leben erträglicher wird. Und er gibt workshops in Poesie: Man stelle sich eine Flusslandschaft vor… Da ist es wieder, das Wasser, das schon bei Jia Zhangke eine Rolle spielte. Mir kommt Bruce Lee in den Sinn: Be water, my friend. Der Fluss in Singapur oder im geschäftigen Dhaka, Landschaft zum Vor-und Zurückträumen. In Bangladesh warten junge Männer, um endlich ihren Traum von Singapur zu verwirklichen, fallen auf leere Versprechungen herein. Lei Yuanbin filmt das Warten und das Nichtstun in den Wohnheimen am Stadtrand, filmt die kleinen Freuden im Alltag, bitter-poetisch.

Poesie des bitteren Alltags (Berlinale 2020)
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