cover-eine-deutsche-kaufmannsfamilie-in-china-co-3Ich drängelte mich mal wieder zwischen Cosplayern und Bücherwürmern durch die Verlagsstände auf der Leiziger Buchmesse, als mein Blick auf einen roten Buddha fiel: Chinesische Schriftzeichen und der deutsche Buchtitel „Eine deutsche Kaufmannsfamilie in Wuhan“ machten den mich umgebenden Lärm, das Geschiebe und gelegentliche Piekser mit den großen bunten Papptüten der ARD vergessen. Ich blätterte in dem mit zahlreichen Abbildungen versehenen Band, wie in einem Familienalbum. Das in den letzten Jahren noch gestiegene Interesse an Geschichte und Geschichten aus erster Hand hatte die Autorin Martha Strasser und den auf Geschichtsbücher spezialisierten August Dreesbach-Verlag zusammen geführt. Sie ist eine jener Zeitzeugen, die es nicht mehr lange geben wird. Martha Strasser wurde in Hankou geboren und verbrachte hier die ersten 14 Jahre ihres Lebens.

Hankou ist ein Teil der heutigen Stadt Wuhan und war von 1895 bis 1919 deutsche Konzession. China „dankte“ Deutschland für seine diplomatische Unterstützung gegen die Japaner mit Abtretung dieser Konzession.
Hankou war eine Handelsstadt am Zusammenfluss des Yangtse mit dem Hanfluss und entwickelte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer von Kohle und Stahl geprägten aufstrebenden Industriestadt.

Martha Strasser berichtet im ersten Teil des Buches über ihre Kindheitserinnerungen und das Schicksal ihrer weit verzweigten Familie. So schildert sie ausführlich, wie ihre Eltern nach China kamen und sich dort kennen lernten. Ihr Vater, Otto Klein, wurde 1908 mit nur 20 Jahren als kaufmännischer Vertreter der Hamburger Firma Fuhrmeister und Co nach China geschickt.
Ihre Mutter, Augusta Klein, entstammt einer deutschen Familie, die 1889 nach Amerika ausgewandert ist. Sie wurde Ärztin und ging 1914 für die Yale Mission zunächst nach Nanjing, später nach Changsha. Um einen kleinen Bullerofen aufzutreiben, wurde sie an Otto Klein in Hankou verwiesen. Sie verliebten sich und 1917 fand in Hankou die Hochzeit statt. 1921 wurde Martha als jüngste von drei Schwestern geboren. 1927 kam noch ein Brüderchen zur Welt. Die Familie hatte sich 1921 außerhalb der damaligen Stadtgrenzen mit Hilfe eines deutschen Architekten ein Haus gebaut. Martha besuchte die Kaiser Wilhelm-Schule in Hankou, schildert die Spiele der Kinder im Garten und Alltagserlebnisse. So gab es z.B. eine Bettlergilde in Hankou, mit der ausgemacht war, dass sie nie vor dem Schultor betteln dürfe. Dafür wurde ihnen ein monatlicher Geldbetrag von der deutschen Schule bezahlt. Martha erfuhr das, weil das Schultor eines Morgens von Bettlern belagert war und ihr Vater, der sie zur Schule gefahren hatte, sehr heftig darauf reagierte. „Er stieg aus, schimpfte laut und wollte sie verscheuchen. Natürlich war ich auch ausgestiegen und musste plötzlich für meinen Vater „dolmetschen“ (er hat nie Chinesische gelernt, mit Pidgin-Englisch“ konnte er seine Arbeit / Einkauf / Verkauf gut bewältigen).“ Die heißen Sommer verbrachte die Familie in Kuling, einer Sommerfrische hoch über dem Yangtse bei Jiujiang, wo die Familie Klein ein stabiles Steinhaus hatte errichten lassen. Zu ihren letzten Erinnerungen der China-Zeit gehörte ihre Flucht nach Wuchang. Ihre Lehrerin, „Frau Alingen von Werder, hatte in der Schule eine Jugendgruppe eingerichtet. Nach 1933 war sie der Meinung, sie müsste uns noch mehr über unsere Heimat Deutschland erzählen.“ Ihre Eltern jedoch verboten ihr, an diesen Treffen teilzunehmen. Man erfährt nicht genau warum. „Natürlich kam der Ärger auch daher, dass meine Eltern zu einem Abendessen eingeladen waren und durch mich zu spät kamen“. Auf jeden Fall schnappte sie sich in jener Nacht ihr Fahrrad und fuhr mit der Fähre auf die andere Seite des Yangtse nach Wuchang. Professor Glatzer, in anderen Dokumenten einfach nur Lehrer Glatzer, fand sie hier und brachte sie zurück zu ihren Eltern.
In ebenjenen Momenten -, wenn man kleine Mosaiksteinchen in das Gesamtbild „Deutsches Leben in Hankou“ einfügen kann, weil in anderen Publikationen oder den erhaltenen Akten die gleichen Namen auftauchen und die trockenen Aktenberichte sich auf einmal mit Leben füllen, macht das Buch Spaß. Vorausgesetzt man hat Spaß daran, sich als Hobbydetektiv zu betätigen. Konrad Glatzer beispielsweise war seit 1903 mit einjähriger Unterbrechung an der Sprachenschule Wuchang tätig. Und Frau Johanna Alingen von Werder taucht seit 1927 in den Akten der Kaiser-Wilhelm-Schule als Lehrerin auf. Sie soll an der Gründung der ersten NS Ortsgruppe in China beteiligt gewesen sein. Das könnte auch ein Hinweis darauf sein, warum die Eltern Klein ihrer Tochter untersagt haben zu den Zusammenkünften bei Frau von Werders zu gehen. Martha Strasser schildert an mehreren Stellen, wie sie von der Offenheit und der Haltung christlicher Nächstenliebe ihres Elternhauses geprägt wurde und wie sich diese Haltung auch auf die Einstellung gegenüber dem Naziregime auswirkte.

1935 verließ Martha Klein Hankou und kam nach Deutschland, um hier die Schule zu beenden und anschließend zu studieren. Während des Krieges heirate sie Paul Strasser, der 1971 an Kehlkopfkrebs starb. Seine Erkrankung veränderte ihre Lebenssituation grundlegend: Martha Strasser ließ sich zur Fachtherapeutin für Laryngektomierte ausbilden und engagierte sich fortan in der Arbeit mit Kehlkopflosen. Schon 1968 war sie Mitbegründerin und später langjährige Vorsitzende des Bayrischen Kehlkopflosen-Verbandes. Dieses Engagement führte sie auch erneut nach China. Von diesen Reisen 1984, 1996 und 2005 sowie der Suche nach den Orten ihrer Kindheit berichtet der zweite Teil des Buches.

Es ist Verdienst des August Dreesbach Verlages diesen Zeitzeugenbericht ansprechend und mit zahlreichen Photos und Abbildungen von Dokumenten versehen herausgebracht zu haben. Und wenn auch der Leser von den Namen der Kinder, Schwäger und Kindeskinder zuweilen verwirrt ist, so verzeiht man es der Autorin gern, denn sie hat „ihre“ Geschichte aufgeschrieben. Trotzdem hätte das Glätten mündlicher bzw. dialektgefärbter Ausdrücke und grammatischer Unsicherheiten gut getan. Zeitzeuge ist eben noch keine Qualifikation. Doch trotz des mancherorts getrübten Lesegenusses ist es eine erstaunliche Familiengeschichte, die die Autorin Martha Strasser hier aufgezeichnet hat.

Martha Strasser: Eine deutsche Kaufmannsfamilie in Wuhan / China. München, August Dreesbach Verlag, 2009, 216 S., 28 Euro.

(dnC 2/2010)

Eine Zeitzeugin aus Hankou