Shanghai 2006/07

I

Fünfzehnter Stock* eines noch höheren Hauses mitten in Shanghai. Der Ausblick ist nicht schlecht: zwischen Hochhausschluchten blinken die nächtens bunt erleuchteten Häuser im Stadtzentrum. Die Wohnung selbst ist geräumig und in unbescheidenem China-Chic gehalten. Gleich ins Herz geschlossen habe ich unseren elektrisch beleuchtbaren Hausaltar, zu dem selbstverständlich auch elektrische Räucher- stäbchen gehören. Die Vermieter haben uns außerdem einen kleinen Käfig mit einer großen toten Grille hinterlassen.

* Mit Rücksicht auf abergläubische Befindlichkeiten westlicher und östlicher Mitbürger fehlen die vierte (vier klingt auf Chinesisch wie Tod), dreizehnte und vierzehnte Etage.

II

Ich habe mir die erste Shanghai-Erkältung eingefangen: entweder zieht es überall oder aber die Räume sind eiskalt, weil klimatisiert. Steigt man aus der kalten U-Bahn aus, betritt man einen meist stickigen Bahnhof. Klimatisch ist also permanente Abwechslung angesagt. Ansonsten herrschen angenehme Temperaturen von 23 bis 26 Grad.

III

Am 1. Oktober ist chinesischer Nationalfeiertag. Aus diesem Anlass bekommt das Volk drei freie Tage geschenkt: das waren der Montag, der Dienstag und der Mittwoch. Damit sich das Ganze auch lohnt werden der Donnerstag und der Freitag vor- bzw. nachgearbeitet, so dass sieben ganze Tage Ferien entstehen. Da ist dann das ganze Land auf Achse. Ich auch. Nach Beijing! – Mit dem Nachtzug braucht man zwölf Stunden und kommt morgens relativ ausgeruht am Ziel an. Die Mitreisenden können dann je nach Talent und Interesse einige Worte auf Deutsch sprechen.

V

Es ist Mitte Oktober, noch immer ist es warm. Wenn ich durch die Straßen der ehemaligen französischen Konzession spaziere, mach ich es manchmal wie die Chinesen und laufe ganz langsam. Denn die warme, feuchte Luft lässt einen schnell schwitzen. Hinter schmiedeeisernen Gittern verbergen sich griechische Säulen und geschwungene Balkone alter Kolonialvillen, lässt man den Blick die Fassaden entlang- streifen, bleibt man unvermittelt an einem Art Deco-Ornament hängen. Der Luxus des Flanierens lohnt sich.

VI

Experimentelle -, Rock- und Punk-Musik in Shanghai: Im sonst eher seichten Shanghai eine Verheißung. Der Klub heißt 4Life und mein erstes Konzert dort war ein Volltreffer: Xin Kuzi – Die neuen Hosen aus Beijing: Drei Jungs standen im Kraftwerk-T-Shirt mit zwei Synthesizern auf der Bühne und im Laufe des Abends wurde die Musik punkiger. Eine Woche später, gleiche Zeit, gleicher Ort, ein zweiter Versuch: Ebenfalls aus Beijing angereist war diesmal Meihao yaodian – Die wunderbare Apotheke. Nomen est omen – wirklich sehr experimentell. Das Schönste ist dann der Nachhauseweg: In den herbstlich regennassen Straßen fahren merklich weniger Autos. Laternen und Ampeln werfen diffuses Licht in die feuchtneblige Luft. Es riecht nach nassem Holz, fernen Bratenschwaden und Keller.

VII

Es gibt noch eine coole Location in der Stadt: den „Geheimspeicher unterm Fluss“, He xia micang. Fast vier Monate habe ich gebraucht, einen solchen Ort zu finden. Plötzlich treffe ich interessante Leute , die mich mitnehmen zu Events, abseits aller touristischen Pfade. Der Geheimspeicher, das ist künstlerischer Idealismus pur. Er ist Arbeits- und Probenraum, Vorführraum und Plattform für Gleichgesinnte, nichtkommerziell und warmherzig. Da gibt es ein Minidokumentarfilmfestival in eiskalten Räumen oder ein Gastspiel der Experimental- theatertruppe aus Taiwan und heißen Kaffee und Rotwein gegen die Kälte. Alles ist gratis und alles ist Enthusiasmus.

VIII

Konzerthaus Shanghai: Zunächst habe ich es gar nicht wiedererkannt, ein Solitär an der Yan’anlu, steht das Haus links und rechts von Parkanlagen gesäumt. Ich erinnere mich an eine dicht bebaute, quirlige Straße, wo man die schöne Fassade des 1929/30 erbauten Hauses kaum wahrnahm. Doch man brauchte Platz für die U-Bahn, Autos und die Hochstraße auf der Yan’anlu, so hat man das für seine Akustik gerühmte Haus kurzerhand um 66 Meter verschoben. Die umliegenden Bauten hat es schlimmer getroffen.

IX

Einen Sonderpreis für eines der schönsten Museen dieser Welt verdient das Shanghaier Museum für Kunsthandwerk. Es beherbergt verschiedene Arten von Staubfängern und Stehrumchen in Glasvitrinen, liebevoll nebeneinander gestellt. Und dazwischen findet man diese Künstler genannten Kunsthandwerker, die hier in mühsamer Arbeit beispielsweise die Sixtinische Madonna sticken, furcherregende Ethnokitsch-Ölbilder malen oder Laternen basteln oder einfach nur da sitzen und Tee trinken. Und das alles in einer wundervollen Villa in der ehemaligen Route Pichon (heute Fenyanglu), die einst den Vorsitzenden des französischen Stadtrates beherbergte.

X

Shanghaier Winter: ein regenschwerer grauer Himmel, feuchte Luft und ein unangenehmer kalter Januarwind. Den Winterblues zelebrieren kann man beim Afternoon Tea mit Blick auf den Bund, wenn die Lichter angehen. Oder man begibt sich auf eine der zahlreichen Dachterrassen, bei Regen ist das Restaurant auf dem Shanghaier Kunstmuseum zu empfehlen, da überdacht. Shanghai ist eine Stadt der öffentlichen Dachterrassen und Bars with a View. Von der Dachterrasse des geschichtsträchtigen Peace-Hotels sollte man einmal auf den Bund hinab geschaut haben, um ein bisschen von der alten und neuen Faszination der Stadt zu spüren. Nicht weit davon, ein wenig niedriger, auch preislich, befindet sich das Captain’s Hostel. Im obersten Stock ist eine Bar mit kleiner Dachterrasse. Und wenn es denn noch höher hinaus gehen soll, kann man auch den Jinmao-Tower erklimmen. Die Cloud Nine-Bar liegt im 87. Stock, in so luftiger Höhe, dass es keine Terrassen mehr gibt. Von hier aus schauen wir zurück auf den mitleiderregend kleinen Bund. Und das 1956 in Peace umbenannte Cathay-Hotel, was mit seinen 77 Metern 1929 Shanghais höchstes Gebäude war, finden wir kaum mehr.

XI

Das Meer habe ich nie gesehen. Obwohl die literarische Übersetzung von Shanghai als „Stadt über’m Meer“ fest in den Vorstellungen verankert ist. Und dem Namen wurde im letzten Jahrzehnt alle Ehre gemacht, als sich mehr und mehr Wolkenkratzer weit über den Meeresspiegel erhoben. Aber man ahnt es mehr, das Meer, als dass man es sieht. Wenn man nach Pudong Richtung Flughafen fährt und die Bebauung spärlich wird, sieht man in der Ferne, dort wo nichts mehr ist, ein paar Frachter ankern. Da muss das Meer sein.

XII

Ein Park an einem sonnigen Sonntag ist ein Ohrenschmaus. Der Wind trägt die Klänge sehr unterschiedlicher musikalischer Genres herüber. Bald erblickt man sie auch, die Sonntagssänger. Nicht allzuweit voneinander entfernt stehen sie in kleinen Grüppchen. Es lässt sich bequem eine kleine musikalische Exkursion vom Volkslied über chinesische Oper zum Schlager chinesischer Prägung bis zum Revolutionslied unternehmen. Die meisten der Darsteller lassen es sich nicht nehmen, ihre Musik, wenn auch technisch auf grausam niedrigem Stand, zu verstärken.

XV

Immer wenn es dunkel wird, zieht ein Mann einen großen Kirmeswagen voller Plüschteddys durch die Straßen des Viertels. Er preist seine Ware nicht an, deshalb dachte ich immer, er sei auf dem Heimweg. Aber sicher bin ich mir nicht. Auch habe ich den Wagen mittlerweile in so unterschiedlichen Straßen gesehen, dass es sich möglicherweise um kein Einzelstück handelt. Auf dem Wagen hat meines Wissens kein Pandabär Platz. Das Symboltier Chinas kommt nicht vor? Mit nur einem von ihnen und lustigen bis satirischen Photostorys kann Zhao Bandi („The Panda Man“) beispielsweise seinen Lebensunterhalt und mehr verdienen. Der Kirmeswagen voller Plüschteddys zieht weiterhin verloren seine Runden.

Shanghaischnipsel
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