Im Film „Erste Abschiede“ (Wang Lina, 2018) bleibt der 11-jährige Isa allein in seinem Dorf zurück, weil seine Freundin von ihren Eltern auf eine „bessere“ Schule geschickt wird, wo sie Chinesisch lernt, denn sie soll es einmal besser haben. Ähnliches erzählt die Regisseurin Melmi Borjigin in ihrem Kurzfilm „A Mother Tongue Lesson“ (2016), in dem Ugu als einzig verbliebener Schüler in seiner Dorfschule irgendwo in der Inneren Mongolei sitzt. Die Wahl des Bildungsweges, um am Aufstieg teilzuhaben, existiert in Xinjiang so nicht mehr. Anfänglich noch vom Kampf gegen den Terrorismus gedeckt, wird hier ein ganzes Volk unter Generalverdacht gestellt: Unter dem Deckmantel von Bildung und Umerziehung werden Konzentrationslager betrieben, Frauen werden zwangssterilisiert, Sprache, Religion und Kontakte ins Ausland verboten. Der Forscher Adrian Zenz konnte anhand der Auswertung von Regierungsdokumenten beweisen, dass die Berichte Überlebender keine Einzelfälle sind. „Ein Volk verschwindet: Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen“ verbindet journalistische Recherchen, Berichte über geleakte Dokumente und öffentlich einsehbare Berichte des Uighur Tribunals in London zu der eindringlichen Aufforderung des Hinsehens. Der Autor Philipp Mattheis war von 2012 bis 2016 Chinakorrespondent der WirtschaftsWoche und von 2019 bis 2021 berichtete er als Ostasienkorrespondent für den Stern. Die hier versammelten Informationen sind nicht unbedingt neu, aber in ihrer Dichte eindringlich und aktueller denn je.

Bei seinem Xinjiang-Besuch 2014 erklärte Xi Jinping, dass eine nicht optimale Bevölkerungsstruktur in der Region Grund zur Unzufriedenheit der Menschen bis hin zu Attentaten sei. Unter dem Slogan „Kampf gegen Terrorismus“ konnte dann die Maschinerie der Bevölkerungsoptimierung anlaufen. Andere nennen es Ethnozid oder kulturellen Genozid. Neben Umerziehung und Zwangsarbeit kommen dabei Methoden modernster Überwachung zum Einsatz. Mithilfe einer mittlerweile gut trainierten Gesichtserkennungssoftware können beispielsweise uigurische Gesichter von chinesischen unterschieden werden. Xinjiang sei ein Labor für Überwachungstechniken, die dann auch anderswo zum Einsatz kommen können, so Mattheis.

Wie sich die Welt angesichts dieses Schreckens von orwellschem Format positioniert, ist unterschiedlich. VW hat in der Region ein Alibi-Werk eröffnet, in dem Teile aus ostchinesischen Werken lediglich zusammengebaut werden. Aber, sagt der Konzern, es sei eine aus wirtschaftlicher Sicht richtige Entscheidung gewesen. Wann werden eigentlich andere Prämissen, als die des Profits, gesetzt? Mattheis fordert in diesem Zusammenhang das Ende eines aktiven Wegschauens. Sieben Länder, darunter die USA, Großbritannien, die Niederlande haben das Vorgehen Chinas in Xinjiang als Genozid verurteilt. Juristen streiten, ob das denn rechtens sei. Die UN-Völkerrechtskonvention aus dem Jahr 1948 setzt nämlich die Absicht der Zerstörung einer nationalen, religiösen oder ethnischen Gruppe voraus. Und diese hat China wohl nicht deutlich genug formuliert. Aber wir leben im 21. Jahrhundert und „wir müssen auch davon ausgehen, dass Völkermorde nicht mehr so vonstatten gehen, wie Mitte des 20. Jahrhunderts.“

Philipp Mattheis: Ein Volk verschwindet: Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen; Ch. Links Verlag 2022, 240 S., 18 €.

Aktives Wegschauen