von Chen Yun-hua
So ein Filmfestival im Winter hat in Corona-Zeiten deutlich mehr zu kämpfen als Cannes oder Venedig, die im Sommer stattfinden. Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter der Berlinale und die geschäftsführende Leiterin Mariette Rissenbeek haben bis Ende Dezember immer wieder betont, dass sie die Berlinale-Filme im Kino zeigen wollen und versprochen, dass es weder ein zweites online-Festival, noch eine Verschiebung geben werde. Man wolle an der Tradition der Berlinale als Publikumsfestival festhalten.
Dazu waren letztendlich Kompromisse nötig, denn die besonders ansteckende Omikron-Variante sorgte seit Dezember 2021 für erhebliche Unsicherheit. In dieser Situation wurden der Europäische Filmmarkt und der Talentecampus ins Netz verlegt, Begegnungen der Filmemacher mit Medienvertretern, Interviews, der rote Teppich, sowie die Gespräche nach den Vorführungen auf die ersten sechs Tage des Festivals beschränkt und die restlichen vier Tage ganz für das Publikum reserviert. Die sonst üblichen Empfänge und Partys waren abgesagt, die Kinosäle nur noch zu 50% ausgelastet, es galt die 2G+Regel und während der Filmvorführungen mussten die FFP2-Masken aufbehalten werden. Allerdings benötigten Medienvertreter, auch wenn sie drei Mal geimpft waren, einen zusätzlichen tagesaktuellen Test, um Zugang zum Pressezentrum, den Pressevorführungen und Pressekonferenzen zu haben. Die meisten Kinos trennten rein-und rausgehende Zuschauerströme, sodass man den Saal über die rückwärtigen Feuertreppen verlassen musste. Wollte man wieder hinein, musste man erneut seine 2G+Nachweise am Eingang vorzeigen. Weil diese Überprüfungen Zeit kosteten, bildeten sich lange Schlangen vor dem Filmpalast und Vorführungen begannen oft erst verspätet. Es kamen auch nicht so viele Stars wie sonst. Auf dem roten Teppich wurden natürlich die Abstände eingehalten und auf dem Boden markierte weißes Klebeband die richtige Position für die Fotos. Unter all diesen Einschränkungen war auch die Zahl der am roten Teppich wartenden Fotografen und Fans lange nicht so groß wie früher.
Es war ein schwaches Jahr für den chinesischen Film. Im Wettbewerb lief „Return to Dusk“ von Li Ruijun, der damit nach „River Road“ schon zum zweiten Mal an der Berlinale teilnahm. Seine Bilder wirbelnden gelben Sandes in der weiten nordwestlichen Landschaft symbolisieren den Kreislauf des Lebens, in dem Erde zu Erde und Staub zu Staub wird, erinnern aber auch an die äsopsche Fabel, in der Mensch und Esel verglichen werden. Er erzählt von einem frisch verheirateten Paar, dass sich während des harten Alltags näherkommt und lieben lernt. Man sieht die Vergeblichkeit des Überlebenskampfes in einem System allgegenwärtiger Ausbeutung, bei dem der Gewinner alles bekommt.
Ebenfalls aus China kam der im Forum gezeigte Langfilm „Jet Lag“ von Cheng Lu Xinyuan. Der Film ist eine Selbsterkundung in schwarz-weiß, Bilder aus der Quarantaine nach ihrer Rückkehr aus Wien verwebt die Regisseurin mit Aufzeichnungen einer Familienreise zu lange verschollenen Verwandten in Myanmar. Dabei portraitiert sie sich und ihre Gedanken: In Gesprächen mit der Geliebten, angesichts der Leerstelle, die der nach Myanmar gegangene Großvater hinterließ oder in der Entfremdung von ihrer Familie.
Außerdem waren da noch zwei Kurzfilme: „The Lighting“, eine Koproduktion von Deutschland, Taiwan und Togo, die Teil der Ausstellung im Forum Expanded war, und „Gongji“ (Rooster) von Myo Aung in der Sektion Generation. „The Lighting“ untersucht ausgehend von der Technologie bildgebender Medien diskriminierende Farbstereotypen in der zeitgenössischen Fotografie. Dazu werden Bilder aus Togo und Taiwan nebeneinander gestellt. Die Lichtwahrnehmung der westlichen Erfindung Fotografie folgt offensichtlich Vorurteilen, sodass dunkle Hauttöne nicht exakt wiedergeben werden. Und so ist die auf Mobiltelefonen häufig verwendete Gesichtserkennung unfähig, Gesichter mit dunklen Hauttönen genau voneinander zu unterscheiden.
Für die burmesisch-taiwanische Koproduktion in der Sektion Generation fuhr der Regisseur Myo Aung in sein Heimatdorf, um den Film zu drehen. Ein 12-jähriges Mädchen wird hier von ihren Eltern an einen Chinesen verheiratet, den es noch nie gesehen hat. Als der Bräutigam nicht zur Hochzeit erscheinen kann, weil er krank ist, wird er durch einen Hahn ersetzt, der die Hochzeitsriten absolviert und mit dem Mädchen ins Brautgemach geschickt wird, nur um danach zu einem einfachen Hochzeitsmahl verarbeitet zu werden. Eine absurde und erschreckende Realität. In den Berlinale Classics lief die 4K-Restaurierung von Lou Yes „Suzhou River“.
Es war ein in jeder Hinsicht düsteres Jahr: wenige Highlights im Wettbewerb, die Filme in Encounters reichten bei Weitem nicht ans Vorjahresniveau heran und leider konnte Isabelle Huppert nicht den Ehrenbären für ihr Lebenswerk entgegennehmen. Hinzu kamen auch noch Probleme mit der Technik. Der Eröffnungsfilm wurde aus unerfindlichen Gründen nach einer halben Stunde abgebrochen und die Zuschauer saßen eine Viertelstunde im Dunkeln bevor es dann weiterging. Auch Akkreditierte mussten über die Berlinaleseite ab morgens halbacht Karten im Voraus reservieren. Vielen erging es dabei wie mir, waren die Karten im Einkaufskorb, fehlte der Button, um die Bestellung zu bestätigen, man konnte lediglich auf „weiter einkaufen“ drücken. Die Mitarbeiter im Ticketbüro wussten auch nicht weiter und die Nummer der hotline, die sie mir gaben, war in Wirklichkeit die der Bühnentechnik, was frustrierend und absurd war.
Laut offiziellen Berichten wurden in den Schnelltest-Bussen vor dem Berlinale-Palast in einer Woche 10938 Tests gemacht, von denen 128 positiv waren, was 1,5% sind. Es scheint also, dass mit dem strengen Hygiene- und Sicherheitskonzept die Berlinale nicht zum Superspreader-Event wurde. Aber trotzdem war die Atmosphäre nicht so wie früher. Die Gegend um den Potsdamer Platz war erschreckend leer. Nur ein paar vereinzelte Menschen waren auf dem Weg ins Kino zu sehen. Hoffen wir, dass das sonst übliche Gedränge und Lachen im nächsten Jahr wieder zurückkehrt.