Zhu Wen: Haixian (Seafood)
Zhu Wen: Haixian (Seafood)

Eins wurde ganz deutlich: der Generationswechsel in der chinesischen Filmszene. Und das nicht nur, wenn man Namen und Biographien der Regisseure betrachtet, sondern auch die Art und Weise der Verarbeitung von Themen und Sujets. Die filmischen Mittel waren in ihrer Vielfalt überraschend, wenn auch letztendlich in der Qualität sehr unterschiedlich. Die Einordnungsversuche der neuen chinesischen Filmgeneration reichen von Chinesischer Nouvelle Vague und 6. Generation, bis hin zu Urban Generation und Chinese Dogme. Die Erzählungen sind direkt, oft sehr persönlich, unter Ausblendung der Kommentarebene. Das Ende der grossen Gesellschaftsparabeln scheint erreicht. Auch der Zuschauer hierzulande muss Deutungsgewohnheiten überprüfen und Klischees über Bord werfen.

Typisch Chinesisch – was ist das? Die jungen chinesischen Regisseure, geboren zur Zeit der Kulturrevolution und aufgewachsen mit Mc Donalds, wucherndem Materialismus und dem Abschied von den grossen Ideologien erzählen ihre Geschichten in einer Sprache, die international ist.

China, das ist die Verbotene Stadt in Beijing und auch Bertoluccis Letzter Kaiser, das ist die Turandot-Inszenierung Zhang Yimous in ebenjener Kulisse und auch Karl Moik mit dem Musikantenstadl hat es sich nicht nehmen lassen, dort zu posieren. Aber Feng Xiaogang treibt den Ausverkauf auf die Spitze. In Big Shots Funeral gerät der Regisseur Tyler (Donald Sutherland), der das Remake von Bertoluccis Letztem Kaiser dreht in eine tiefe Sinnkrise. Einzig der chinesische Making of-Kameramann (Ge You) scheint ihm frisch und unverdorben. So lässt er sich von ihm versprechen, dereinst sein Begräbnis zu inszenieren. Die Chance muss Yoyo nutzen und als Tyler einen Schwächeanfall erleidet, macht er sich sofort an die Arbeit. Zu Idealismus und Elan gesellen sich monetäre Zwänge und so entwickelt sich die Arbeit zu einem rasanten Ritt durchs Chinas Moderne mit Hasardeuren , Mafiosi und Kapitalisten, die alle ein Stück vom großen Kuchen haben wollen. Am Ende sieht man die Verbotene Stadt vor lauter Werbung nicht mehr. Ein satirischer Kommentar auf Massenkultur und Käuflichkeit und eine von bunten Bildern zugedeckte Medienwirklichkeit.
Ebenfalls um das eigene Medium dreht sich der Aufhänger von Hua Yan (Dazzling), eines weiteren Panorama-Beitrags.
Wegen einer Lichtallergie hält sich der Platzanweiser nur noch im Kino auf, beobachtet die Besucher und erzählt ihre Geschichten. Die beobachtete Realität auf die Leinwand bringen, die Referenz an das eigene Medium als Klammer, das ist der Anfang desFilms von Xin Lee, der nichts hält, was er verspricht, der sich fürchterlich verzettelt, sowohl in seiner Story, in gut erkennbaren Lieblingsfilmen des Regisseurs und in visuellem Eklektizismus.

Viele der in diesem Jahr geladenen Regisseure stellten ihre Filme unabhängig her, außerhalb der großen Studios. Dabei setzten sie auf digitale Technik, die ihnen größere Freiheiten beim Dreh ermöglicht, als auch die Produktionskosten gering hält. Doch lediglich Digitaltechnik und der Wille, einen Film zu machen genügen nicht. Die visuelle und narrative Verdichtung eines Stoffes machen die Stärke des Erzählens aus.
Women haipa (Shanghai Panic) entstand nach einer Vorlage von Mian Mian, die selbst im Film eine Hauptrolle spielt. Als ihre Erzählungen im vorigen Jahr auf Deutsch erschienen, wurde sie gefeiert als Chinas Bad Girl und Pop-Literatin. Es ist der hierzulande immer noch schwer fassbare Exotismus von Sex, Drugs and Rock’n’Roll in China, gepaart mit dem Geschmack des Verbotenen, in einem Land wo die staatliche Zensur Filmen oder Büchern bei Nichtgenehmigung noch immer zum Erfolg verhilft. Die Bauchnabelschau junger Menschen in Shanghai beginnt mit der Geschichte von Bei, der glaubt, dass er Aids hat. Es wird geredet, was man tun könne, denn man habe ja gehört, Aidskranke würden auf einer Insel unter Quarantäne gestellt. Schließlich gibt es doch die Möglichkeit der ärztlichen Untersuchung, Resultat: HIV negativ. Vielleicht waren es die Pillen, die so tolle Trips verschaffen, die Bei nicht vertrug.
Das Portrait der Kälte und Orientierungslosigkeit junger Menschen in Shanghai mag als Buch noch funktionieren, aber verfilmt als pseudodokumentarisches Endlosgerede ist es schwer erträglich. Nicht genug damit, hatte der Regisseur die Idee, das Ganze zu verlängern. Also wird jetzt ohne konkrete Drehbuchvorgabe nach Liebe gesucht, homoerotische Nähe probiert und über Selbstmord philosophiert. Dass Andrew Cheng Yusu sich anschließend beim Publikum bedankte, das den Film durchgestanden hat, war sehr anständig. Der Regisseur vergaß auch nicht zu erwähnen, daß der Film bei zahlreichen anderen Festivals abgelehnt worden war. Zurecht muß man feststellen und fragt sich: Warum nicht in auch Berlin?
Ganz anders hingegen der Film Haixian (Seafood) des zunächst als Lyriker und Erzähler bekannt gewordenen Zhu Wen. Zhu Wen gehört als Schriftsteller der sogen. vagabundierenden Generation an, er schrieb das Drehbuch zu Zhang Mings Film Wushan Yunyu (Regenwolken über Wushan), der im Forum der Berlinale 1996 zu sehen war, sowie das Buch zu Zhang Yuans Guo nian hui jia (17 Jahre) und nun liegt mit Haixian sein Debut als Regisseur vor. Ebenfalls auf DVD gedreht wurde der Film auf 35 mm aufgeblasen. Auf internationalen Festivals von London, Pusan, Venedig bis Nantes bereits enthusiastisch aufgenommen, ist Haixian ein für die chinesische Filmlandschaft erstaunlicher Film in seiner Mischung aus Schönheit, Melancholie, Zynismus und schwarzem Humor. Bedaihe, Seebad im Norden Chinas, wo sich früher politische Kader erholten, im Winter ein kalter und trostloser Ort, ein Ort für Selbstmörder. So kam Xiaomei, Prostituierte aus Beijing hierher, im Entschluss das Leben zu beenden unentschlossen. Ihr Hotelnachbar (Ma Liuming in 3 Kurzauftritten) zögert hingegen nicht. Deng, mit der Untersuchung des Selbstmords betrauter Polizist, verhört auch Xiaomei und vermeint ihre Absichten zu durchschauen, von denen er sie fortan abzuhalten versucht. Er liebt Meeresfrüchte, die angeblich glücklich machen und von denen eine jede im Geschmack individuell wie Frauen sei. Zwischen beiden macht er keinen Unterschied, er entscheidet über sie, er kauft sie, vergewaltigt sie. Changierend zwischen Skrupellosigkeit und unbeholfener Suche nach Nähe hält der Film mit überraschenden Wendungen in Atem. Xiaomei tötet schließlich nicht sich selbst, sondern den Polizisten Deng und letztendlich hat er ihr doch den Geschmack am Leben und an Meeresfrüchten wiedergegeben. Bei letzteren setzt sie gemeinsam mit einer Freundin in Beijing einen gefälschten 100 Yuan-Schein um. Zhu Wen setzt auf die Stärke der Erzählung, er nimmt sich Zeit für seine Figuren, die in ihrer Einsamkeit jede für sich berührend sind. Polizist und Prostituierte, gesellschaftliche Gegenspieler eigentlich, Zhu Wen zeigt ihre Ähnlichkeit. Damit ist auch klar, daß der Film in China nicht offiziell gezeigt werden kann.
Ganz anders als Haixian, aber nicht weniger beeindruckend, spielt Yueshi (Lunar Eclipse) mit den Möglichkeiten filmischen Ausdrucks: Rückblenden und Doppelgängermotiv. Zwei Frauen, eine Geschichte, zwei Geschichten, eine Frau: zwei Seiten einer Person, wie im Traum verwoben, geheimnisvoll wie auch der Titel des Films. Yueshi ist auch ein Debutfilm. Gedreht hat ihn Wang Quanan 1999, Absolvent der Filmakademie, Bereich Schauspiel und einigen vielleicht noch als Busfahrer aus Zhang Nuanxins Film Beijing ni zao (Guten Morgen Beijing)bekannt. Der Regisseur entschloss sich, seinen zunächst unabhängig gedrehten Film der Zensur vorzulegen und er wurde genehmigt. Xiaobin, ein junger Hobbyphotograf und Miandi-Fahrer trifft Yanan und ihren zukünftigen Mann, einen Manager. In ihr erinnert er die andere Frau, die genau so aussah wie Yanan. Er beginnt ihr die Geschichte von Jianang zu erzählen, einer jungen Schauspielerin, die er durch Zufall kennenlernte, wie jetzt Yanan. Yanan selbst taucht in die Geschichte, als wäre sie Teil ihres Lebens.  Zwei Figuren, verführerisch ähnlich, vielleicht sind es doch nur unterschiedliche Lebensabschnitte derselben? In einer unheimlichen Szene am Ende des Films wird Yanan Zeugin eines Autounfalls, der den Tod ihrer „Doppelgängerin“ verursacht.
Die Einblicke in das Schaffen einer Generation, die gerade erst am Anfang steht, versprechen viel für künftige Filme aus China.

 

(in: dnC 1/2002)

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