China in Recife, Guangdong in Taiwan, 19 Mal Chinesen in China und der Welt – so viel China war lange nicht auf der Berlinale: kurz, mittel, lang, mittellang, international, global: Wir sahen große und kleine Fluchten, Plädoyers für das Anderssein, Ausbrüche in realita und fantasia. Die passende Gedichtzeile habe ich bei Thomas Brasch ausgeborgt. Dass es die ideale Welt nicht gibt, in der man ist und funktioniert, wie „die Erwachsenen“ es sich vorstellen, machen die Filme der Sektion Generation deutlich.
In 小半截 – The Great Phuket von Liu Yaonan folgen wir dem 14-jährigen Li Xiang. Er wohnt inmitten eines Abrissviertels, sein Elternhaus ist nicht privilegiert, in der Schule schläft er, hat ansonsten eine große Klappe und spielt für sein Leben gerne Basketball. Doch eines Tages entdeckt er auf der Abrissfläche hinter dem Haus einen Unterschlupf, der Räume voller Klänge eröffnet, man gelangt in eine Tropfsteinhöhle und tief drinnen bis in eine alte Fabrikhalle. Es eröffnet sich eine Welt hinter der Welt. Oder träumt er sich nur weg? Filmisches Surplus: Die Erlebnisse des Tages kehren in seinen Träumen des Nachts als Zeichentrickfilm wieder. Leider sind 97 Filmminuten zu lang für eine Geschichte, in der keine neuen Aspekte der Figuren eröffnet wurden. In vielen Filmen spielte der Schulsport eine Rolle: Ort der Zugehörigkeit, des Teambuildings und Aufgehobenseins, aber auch der Disziplinierung; eine offenbar prägende Erfahrung vieler Filmemacher aus China, wenn auch als Filmmotiv etwas überstrapaziert auf dieser Berlinale.
Sich an andere Orte wünschen oder ausbrechen aus der gewohnten Umgebung – wie ein roter Faden zogen sich diese Themen durch viele Filme. Der einzige sinophone Film im Wettbewerb war Black Tea des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Er erzählt von Aya,einer ivorischen Frau, die ihrer Hochzeit entflieht – vielleicht nur in Gedanken, wie es das Schlussbild nahelegt. Auf der Suche nach privatem und beruflichem Glück flieht sie nach China, Guangzhou. Dort leben viele Afrikaner in einem Viertel, das als Chocolate City bekannt ist. Und Sissako lässt sie alle Chinesisch sprechen. Aya knüpft zarte Bande zum Besitzer des Teeladens, wo sie arbeitet. Das Problem ist, dass Sissako keine Drehgenehmigung in der Volksrepublik bekam und deshalb nach Taiwan ging. Man hört Taiwan und sieht Taiwan. Es ist einfach nicht das behauptete Guangzhou. Doch die meisten Zuschauer wissen davon nichts und lassen sich gern von den schönen, in warmes Licht getauchten Bildern Aymerick Pilarskis (Öndög, Berlinale Wettbewerb 2019) verführen.
Ganz so weit wie Aya haben es Li Eryang und seine Freunde nicht. Ihr Fluchtort liegt in Beijing, ist nur 10 Quadratmeter groß und heißt 共和国 – Republik. In diesem vollgestopften Zimmer von Li Eryang ist jeder willkommen, ob zum Hören von Beatles, Doors und Co, Musikmachen oder Philosophieren. Junge Chinesen als Nachfahren der Hippies, ein Bild das Staunen macht, weil es nicht in unser Chinabild passt. „Dabei“, so der Regisseur im Interview, „ist die Zahl junger Leute, die so leben gar nicht klein. Aufgrund der schnellen oder zu schnellen Entwicklung des Landes, des Reichtums, den die Menschen angehäuft haben, und des permanenten Konsums, wollen viele nicht mehr mitmachen, so wie Li Eryang und seine Freunde.“
Zwischen Sommer 2020 und Februar 2024 sammelte Jin Jiang rund 400 Stunden Material. Das ging nur als Teil der Community, um in so beengten Verhältnissen mit der Kamera dabei zu sein. Es gibt immer wieder Diskussionen darüber, wie nah ein Dok’filmer seinem Gegenstand bzw. den Menschen, deren Leben er aufzeichnet sein darf. Jin Jiang findet einen pragmatischen Weg: Wenn er die Kamera anschaltet, spricht oder interagiert er nicht mehr mit den Menschen vor der Kamera. Sie sollen ihr Ding machen, so als sei er nicht da. Sein Anliegen ist es, das Leben der Menschen, die sich eine eigene Welt schaffen und die in chinesischen Mainstreammedien nicht vorkommen, zu dokumentieren. Was er zeige, sei nicht die Wirklichkeit, sondern seine Wahrnehmung dieser. Und wenn das die Zuschauer überzeugt, sagt er, dann habe er einen guten Job gemacht.
Eine wichtige Rolle spielt die Musik, die nicht eigens für den Film geschaffen wurde, sondern sich aus der Situation ergibt. Wir hören, was gerade gestreamt wird, dazu kommen von Li Eryang selbst gespielte Solos auf der Gitarre. Es wird gekocht, geliebt und gestritten. Mit psychedelischer Musik und ein paar bewusstseinserweiternden Drogen lassen sich auf Sesseln und Matratze Hippietum, Kapitalismus und Xi Jinping in Einklang bringen. Geld, das man zum Leben braucht, liegt unter einer kleinen Pyramide im Regal. Ein ökonomisches Wunder. Doch die ideale Gesellschaft stößt auch auf kleinstem Raum an Grenzen. Li Eryang ist inzwischen weitergezogen, seine Republik exisiert nicht mehr.
Den enger werdenden Spielraum spürt auch Wang Xiaoshuai, Veteran der 6. Generation. Vor 20 Jahren lief sein Debut 冬春的日子 – The Days in Berlin. Als er zurückkehrte, durfte er nicht mehr arbeiten. Kann sich Geschichte wiederholen? Seinen jüngsten Film 沃土 – Above the Dust brachte Wang Xiaoshuai in vollem Bewusstsein drohender Restriktionen ohne Drachensiegel nach Berlin. Er hatte den Film bei der Zensurbehörde eingereicht, aber er war nicht freigegeben.
Der zehnjährige Wo Tu, daher der chinesische Titel, wünscht sich nichts sehnlicher als eine Wasserpistole, wie sie alle anderen haben. Wang Xiaoshuai erzählt dabei gleich die Geschichte dreier Generationen auf dem Dorf, Nachkommen eines Landbesitzers der in den 1950er Jahren Opfer der Landreform wurde. Er schmuggelt seine Sicht auf die Entwicklung Chinas in diesen Film, der nach 地久天长 – So Long, My Son (2019) der zweite Teil seiner Heimat-Trilogie ist. Doch das sensible Thema Landreform soll nach Wunsch der Zensoren herausgeschnitten werden. Ob der Junge auch einen anderen Namen bekommt? Bedeutet der doch einfach Fruchtbares Land. Mit seinem Fokus auf dem Kind und seinen magisch-realistischen Träumen kann der Film leicht als Kinderfilm gelesen werden, und so lief er auf der Berlinale im Generation Programm mit eingesprochener Übersetzung. Schade, wenn so vielleicht nicht einmal die gewünschte internationale Sichtbarkeit erreicht wird, wo schon eine nationale ausbleibt.
Sichtbarkeit, Visualität ist Stichwort für die drei folgenden, visuell beeindruckenden Filme: Seit mittlerweile zehn Filmen bewegt sich Lee Kang-sheng als Mönch sehr langsamen Schrittes durch die Welt, diesmal durch Washington. Abiding Nowhere – 无所住 ist eine Zeile aus der Diamantsutra und der Titel dieses Films aus der Walker-Serie von Tsai Mingliang. Keinen Ort zum Bleiben finden, weitergehen: Lee Kang-sheng schreitet in roter Mönchsrobe durch Stadtansichten, das ergibt Farbtableaus mit urbanen Sounds unterlegt. Ein anderer einsamer Reisender, Anong Houngheuangsy, wird dagegen geschnitten, im Hotelzimmer, beim Essen, im Museum. Der filmische Minimalismus von Tsai Ming-liangs Walker-Serie ist der Malerei verpflichtet. Am Anfang stand die Frage, ob man einen Film nur auf Laufen bauen könnte; keine Geschichte, keine Figurenentwicklung, kein Drehbuch, was ihn einschränke. Tsai Ming-liang will Grenzen ausloten, was Film ist und kann. Inspiriert von der Reise des Tangmönches Xuanzang nach Westen, um die heiligen buddhistischen Schriften aus Indien zu holen schafft Tsai Ming-liang eine Leinwandmeditation mit Suchtpotential.
Die Grenzen der Kamera ausloten, bis Landschaften und Figuren in ihr zu bloßen Ornamenten werden, beschreibt Zhou Tao als eines der Anliegen seines Films. Die lange Eingangssequenz zeigt, wie Wind spärliches Grün bewegt, betonierte Wege enden im Nichts, vorbeifahrende Autos – wo sind wir? Irgendwann kommt ein Mann ins Bild. Was macht er dort? Er ist zu Fuß unterwegs, wo will er hin? The Periphery of the Base ist eine Wüstenmeditation am Rand Chinas gedreht, die die Ränder eines Megabauprojektes in der Gobi einfängt. Wir hören Baustellengeräusche ohne jemals zu sehen, was vor sich geht. LkWs verschwinden im Wüstensand, Menschen sprechen über das Essen in ihrer Heimat, sie vertreten sich die Beine nach Arbeitsschluss, eine Zeltstadt rückt ins Bild, ihr temporäres zu Hause. Auch das ist kein Ort zum Bleiben.
Zhou Tao kommt von der bildenden Kunst, ist Mitglied des unabhängigen Kunstraumes Vitamin Creative Space, der den Film mitproduzierte und weltweit vertreibt.
Kamera und Photographie spielen auch eine wichtige Rolle in Qiu Yangs Spielfilmdebut 空房间的女人- Some Rain Must Fall. Unterstrichen wird das durch ein ungewöhnliches, weil quadratisches Filmformat. Kamerafrau Constanze Schmitt arbeitet schon seit seinen Kurzfilmen mit Qiu Yang zusammen. Zusammengeführt hat sie der ähnliche Sinn für Ästhetik. Im Zentrum des Films steht Cai, eine depressive Hausfrau. Ihr Leben ist der „Ort“, an dem sie nicht bleiben will. Ihr Leben gerät anscheinend aus den Fugen, als sie in der Turnhalle, wo sie ihre Tochter abholen will, versehentlich eine alte Dame verletzt. Ein Zwischenfall, der Nachdenken und kleinste Verschiebungen auf Seiten von Cai in Gang setzt. Eigentlich wollte sie immer weg, gesteht sie ihrem Noch-Mann. Das Leben als Abfolge alltäglicher Dramen: Cai lässt sich gerade scheiden, Hausfrau, Mitte 40, Tochter im Teenageralter, die kranke Schwiegermutter zu Hause und das Verhältnis zu den eigenen Eltern schwierig. Die Tochter will aus dem Basketballteam der Schule aussteigen (Da ist wieder der Schulsport!), auch wenn ihr das eine schlechtere Ausgangsposition für ein späteres Studium verschafft, die Familie der verletzten alten Dame will mehr Geld. Typisch, sagt ihr Mann, die vom Land wieder. Cai kommt selbst vom Land, die Heirat war ihr Aufstieg in die Mittelschicht. Jetzt ist sie was Besseres, aber die Kontrolle darüber entgleitet ihr. Die Zuschauer erhalten Einblicke in ihr Leben, wobei Türen, Vorhänge oder andere Personen den freien Blick auf den Bildraum ständig verstellen, so dass beim Zuschauer das Gefühl des heimlich Beobachtens durch ein quadratisches Guckloch entsteht. Eigentlich passiert nichts Besonderes, alltägliche Dramen ziehen vorüber, in ästhetischer Brillianz.
Erschütterungen eines geordneten Mittelklasselebens führt auch Lin Jianjie in seinem Spielfilmdebut 家庭简史 – Brief History of a Family vor. Sequenzen sich bewegender Zellen unterm Mikroskop werden gezeigt, damit wir nicht vergessen, worum es geht: Genaues Beobachten der Familie als Zelle der Gesellschaft und lebendiger Organismus im Hinblick auf ihre Reaktionen dem Fremden gegenüber. Der Vater im Film ist Mikrobiologe und auch der Regisseur JJ Lin hat in seinem ersten Leben Biologie studiert. Der Film beginnt mit einem langen Klimmzug, wir sehen einen Jungen von hinten, bis ihn ein Basketball am Kopf trifft und er abstürzt. Aus der zufälligen Begegnung entwickelt sich der Film.
Yanshuo, der gerade noch am Reck hing, wird der neue Freund von Tu Wei. Dessen Eltern nehmen ihn wie einen Sohn auf, denn sie sind gute Menschen. Und Yan Shuo kommt aus sogenannten schwierigen Verhältnissen, ist ruhig, höflich, fleißig. Doch was verbirgt er? Der Zuschauer weiß nicht mehr als die Filmfamilie, nämlich das, was Yan Shuo erzählt. Tu Wei, der lieber am Computer spielt, als zu lernen wird zunehmend vom Mittelpunkt der Familie verdrängt und wehrt sich. In Brief History wird ständig Fisch gegessen. Es ist zu offensichtlich, wenn Tu Wei eine Gräte im Hals stecken bleibt und er keine Luft mehr bekommt. Als er beobachtet, wie Yan Shuo dem Todeskampf eines Fisches auf dem Trockenen ungerührt zusieht, beschuldigt er ihn, vielleicht doch nicht nur Opfer seines trinkenden Vaters zu sein. Hat er vielleicht beim Tod des Vaters zugesehen und nicht geholfen? Das Rätsel bleibt unaufgelöst: Je näher man den Filmfiguren kommt, desto mysteriöser werden sie. Es gibt keine Außenwelt im Film, niemand der interveniert oder sich fragt, wo Yan Shuo abgeblieben ist. Nach seiner Premiere bei Sundance war der Film mit Spannung erwartet, blieb jedoch in seiner Konstruiertheit weit dahinter zurück.
Wer träumt nicht davon, einfach woanders neu anzufangen? Die deutsche, in Argentinien lebende Regisseurin Nele Wohlatz hat in Karlsruhe und Buenos Aires studiert. Für ihren neuen Film Dormir des los olhos abertos (Sleep With Your Eyes Open) begibt sie sich nach Brasilien, um die Zerrissenheit chinesischer Migranten zu filmen. Schon in ihrem preisgekrönten Film El futuro perfecto (2016) portraitierte sie die Argenchinos als Kinder der Globalisierung. Ein Neubeginn kann auch ein Alptraum sein, so wie für die Taiwanerin Kai. Sie kommt aus Argentinien und wollte den Urlaub in Brasilien mit ihrem Freund zusammen verbringen. Aber er hat sie sitzen lassen und so ist sie allein in Recife gestrandet. Sie kann nicht schlafen, streunt durch die Stadt und kreuzt den Weg von Fu Ang und seinem Regenschirmstand. Sie borgt sich eine Zange, wegen der nervenden Klimaanlage in ihrer Unterkunft. Als Kai das Werkzeug zurückgeben will, wird der Regenschirmshop gerade aufgelöst. Doch bekommt einen Karton mit beschriebenen Postkarten. Geschrieben von Xiaoxin, Notizen aus Recife auf Postkarten, die sie im Lager ihrer Tante gefunden hat. Xiaoxin wollte mal was anderes erleben, ein anderes Land sehen, sehen, was passiert. Also ist sie eine Weile zu ihrer Tante gezogen. Hier trifft sie wieder nur auf Chinesen. Die Tante betreibt einen Importhandel, in dem sie Xiaoxin wie die anderen chinesischen Vertragsarbeiter ausbeutet. Einer von ihnen ist Fu Ang. Fu Ang, der von China träumt, weil sich dort alles verändert, während in Recife alles gleich bleibt. Fu Ang, der sich immer wieder neu erfindet, erst Regenschirme, dann Luftballons verkauft. „Made in China“ ist nicht nur das Tatoo auf Xiaoxins Arm, sondern auch ihr Leben am anderen Ende der Welt. In charmanter Beiläufigkeit beim Erkunden der Stadt, Stöbern in Erinnerungen oder Herumhängen am Pool verbindet der Film seine Figuren so poetisch wie melancholisch.
in: Berliner China-Hefte 56/2024