Auszug, aus dem Chinesischen von Peggy Kames
Auf einer Lesung an der Freien Universität traf ich unerwartet auf zwei junge Afghanen, die vor einem halben Jahr aus ihrer Heimat geflohen waren. Ma Long und Lina – so heißen sie auf Chinesisch. Sie waren meine Kollegen an der sinologischen Fakultät der Kabuler Universität. Das Schicksal hat uns hier, an diesem Ort, der nie zu unseren Lebensplänen gehört hatte, zusammengeführt. Ich war damals aus China entsandte Professorin für chinesische Sprache und sie Lehrassistenten. Nachdem ich 2019 meinen Abschied genommen hatte, bin ich ziellos durch die Welt gestreift und schließlich in Berlin gelandet. Noch bevor ich aus Kabul wegging, hatten sich die beiden für ein Master-Studium an der Universität für Sprache und Kultur in Beijing eingeschrieben. Da waren sie noch nicht verheiratet, und erst nach der Verlobungszeremonie durften sie zusammen die Reise antreten, so verlangt es der Brauch. […]
Ich kam am 8. März 2017 an. Das Flugzeug flog der untergehenden Sonne entgegen und durchquerte ein goldenes Wolkenmeer. An den Mützen der Stewardessen war ein blaues Tuch befestigt, sehr ungewöhnlich, und Hinweis darauf, dass wir in einer konservativ gekleideten islamischen Republik willkommen geheißen werden.
Als wir den Flughafen verließen, dämmerte es bereits. Einige Dozenten der Universität Kabul begrüßten uns, und die Literatur-Fakultät hatte sogar ein Geschenk zum Frauentag für mich vorbereitet. All meine Befürchtungen waren durch diese kleine Überraschung wie weggeblasen. […]
Ich bin nach Afghanistan gegangen, um mir einen Traum zu erfüllen. Als Nachfahrin turkstämmiger Uiguren wollte ich die Spuren meiner Vorfahren erkunden. Das hatte mit dem Babur-nama, den „Memoiren von Babur“, und seiner faszinierenden Beschreibung von Kabul zu tun. […]
Ende April bekam ich endlich die Erlaubnis der Fakultät gemeinsam mit Ma Long und Lina den Babur-Garten, Bagh-e Babur, zu besuchen. Es ist eigentlich eine aus vier Gärten bestehende Begräbnisanlage, die symmetrisch angelegt und nach Mekka ausgerichtet ist. Obwohl nicht so berühmt wie die Grabanlagen seiner Nachfahren Humayun und Sha Yahan, ist die Anlage spektakulär. Betritt man sie, erblickt man im Osten eine Art Pavillon, von dem Wasser in Kaskaden bis zu unseren Füßen fließt. Auf den Terrassen wuchsen Obstbäume, zwischen denen bunte Blumen blühten. In ihrem Schatten hatte man sich zum Pique-nique niedergelassen, war ausgelassen und fröhlich. Auf dem Weg nach oben schwebten Blütenblätter wie Schneeflocken in der Luft. Obwohl es sich doch um einen eingezäunten Park handelte, freute ich mich, wie ein gerade aus dem Käfig gelassener Vogel.
Oben stand eine elegante Moschee aus weißem Marmor. Als Ma Long sagte, dahinter sei das Maosoleum von Babur, schossen mir vor Freude und Aufregung Tränen in die Augen. […]
Ich sehe sie wieder vor mir: die Berge, das Mondlicht, Sterne, Blumen, Mädchen, das Mausoleum von Babur – die Bilder überfluten mich. Egal, ob damals oder heute, dieses Stückchen Erde mit seinen Menschen und Dingen ist mir wertvoll. Ich glaube fest daran, dass Kabul nicht von dieser Welt, dass Kabul einzigartig ist. Babur hat die Stadt geliebt: Nicht einmal der Tod konnte ihn und Kabul trennen.
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