Das chinesische Kino hat viele Facetten. Dass es mehr ist als Shanghai-Nostalgie, Revolutionsromantik oder Kung-fu Hustle wissen wir spätestens seit dem Auftauchen unabhängiger Filmproduktuktionen auf internationalen Festivals.Gern wurde und wird ihnen im Westen auch das Label „Untergrund“ verliehen, weil das dissidentischer klingt.
Über die Vielfalt des chinesischen Filmschaffens kann man sich seit Oktober alle 14 Tage im Kino Babylon ein Bild machen. Die chinesische Filmproduktion ist ihren geordneten Bahnen entwischt bzw. hat diese ausgeweitet. Unter dem Titel „Close up China“ hat Feng-Mei Heberer unabhängige Filmproduktionen der letzten Jahre zusammengetragen. Und manche dieser Nahaufnahmen lassen die Zuschauer schon verwundert nachfragen, ob das China sei, ob das denn möglich sei und ob das sein dürfe, da offensichtlich auch unser überkommenes und meist von den Medien generiertes China-Bild in Frage gestellt wird.
Den Anfang der Filmreihe machen Produktionen, die zu den Höhepunkten des diesjährigen Shadows-Festivals in Paris gehörten. Zum Auftakt gab es Jiang Zhis liebe- und humorvolles Portrait zweier Transvestiten in Shenzhen, „Our Love“ (Xiang Ping Li, 2005). Nur wenige werden diesen Film auf dem Asien-Pazifik-Festival 2005 in Berlin gesehen haben, umso schöner, dass es diese zweite Chance hier gab. Der Film, eine Mischung aus Dokumentar-und Spielfilm, zeigt die Transvestiten Xiang Xiang und Teresa (ihr chinesischer Name ist Lijun). Beide teilen sich eine Wohnung, Freude und Schmerz. Während Xiang Xiang einer schönen Frau zum Verwechseln gleicht, verwandelt sich Teresa zwar Abend für Abend in ihr Idol Teresa Teng (Deng Lijun), doch unter der Oberfläche sieht man den dicklichen Jungen mit den viel zu tuntigen Gesten. Ladyboys und glamaouröse Dragqueens entsprechen nicht unbedingt unserem China-Bild, doch Jiang Zhi gibt ihnen ein Gesicht. Auf den Lebensgeschichten von Xiang Xiang, Ping Er und Lijun basierend (daher der Originaltitel) portraitiert der Film Freunde, die sich auf der Bühne und im Alltag als Frauen fühlen, für die anderen jedoch nur Schwule, Transvestiten und Perverse sind. Als sich ein Freund Teresas in Xiang Xiang verliebt, natürlich ohne zu ahnen, dass diese ein Mann ist gerät das fragile Gleichgewicht zwischen Spiel und Leben aus den Fugen. Zwischenschnitte zeigen immer wieder Inteviewszenen mit Ping Er, der sich auf seine Geschlechtsumwandlung vorbereitet. Dabei träumt er von all dem Schönen, was geschehen wird, wenn er endlich zur Frau wird und erzählt merkwürdige Begebenheiten aus chinesischen Homosexuellen-Kreisen. Damit nimmt sich Jiang Zhi des Themas der Außenseiter, der am Rande der Gesellschaft Lebenden an, was typisch für die junge Filmemachergeneration ist, ob sie nun als 6. Generation oder Vertreter der neuen Dokumentarbewegung oder „Urbane Generation“ bezeichnet werden.
Jiang Zhi, Jahrgang 1971, ist ein Quereinsteiger, d.h. er ist nicht der akademischen Traditionslinie der BFA (Beijing Film Academy) entsprungen, von der sich die Generationszählung seit Eröffnung der Schule im Jahr 1956 ableitet. Er studierte an der chinesischen Kunstakademie in Hangzhou, ist als bildender Künstler, Photograph und Filmemacher aktiv und gehört damit zu den inzwischen zahlreichen Künstlern für die die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen fließend sind.
Ein weiterer Abend der Reihe war dem Pionier des Dokumentarfilms, Wu Wenguang, gewidmet. Auch er gehört zu den Grenzgängern zwischen den Künsten. Mit seiner Frau Wen Hui hat er das Living DanceStudio und die Caochangdi Workstation, einen Raum für darstellende Kunst, Dokumentarfilm und Videokunst, ins Leben gerufen.
Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es in China weder künstlerische Photographie, noch künstlerischen Dokumentarfilm. Bild-Dokumente dienten der Propaganda und entstanden innerhalb festgefügter Institutionen. Daraus folgte, dass im chinesischen Volk ein großes Misstrauen gegenüber dem Mann mit der Kamera herrschte. Er war derjenige, der in die Privatsphäre eindrang. Auf der anderen Seite brauchte man eine staatliche Legitimation, um überhaupt drehen zu können und um an eine Kamera und Filme heranzukommen. So wählten viele Dokumentarfilmer in den 80er und 90er Jahren den Umweg über das Fernsehen. Erst mit dem Auftauchen der Video- und DV-Technik wurden Kameras nicht nur für viele erschwinglich, sondern auch das Filmmaterial, was vorher lediglich institutionell verfügbar war, war nun für jedermann zugänglich. Man kann insofern von einer Demokratisierung des Filmemachens sprechen. „Die DV-Technik ist ein Ersatz, weil wir jetzt schon so lange über den unabhängigen Film gesprochen haben. DV-Technik ist
Ausdruck einer sehr persönlichen Handschrift bzw. einer inoffiziellen (minjian) Position. Das Wichtigste ist, dass jeder selbst eine Kamera in die Hand nehmen und filmen kann. Hier zeigt sich, wie Bilder etwas sehr Persönliches werden, wenn sie aus den Händen einer Gruppe oder Institution befreit sind.“ (Wu Wenguang, 8/2000)
Denjenigen eine Stimme zu verleihen, die auch in der heutigen Gesellschaft unter normalen Umständen keine haben, ist das Anliegen von Wu Wenguang und seinen Projekten. 2002 initiierte Wu Wenguang eine Performance, an der verschiedene Künstler, aber auch 30 Wanderarbeiter, die auf den Baustellen Beijings tätig waren, teilnahmen. Ihnen bot er die drei Euro, die sie sonst pro Tag auf der Baustelle verdienten an, und für einen Moment standen die, die sonst zur untersten Schicht in den chinesischen Großstädten gehören, mitten auf der Bühne. Neben seinem Film „Dance with farmworkers“ (He mingong yiqi tiaowu, 2002) lief auch „Villager’s Documentary Project“ (2005), welches Teil aus seinem Self-Governance Project ist. Aus Dörfern in verschiedenen Provinzen wurden zehn Leute ausgewählt, acht Männer und zwei Frauen, denen eine DV-Kamera in die Hand gegeben wurde. Eine DV-Kamera, „die mindestens so viel wert ist, wie die Kosten, die entstehen, wenn man zu Hause 15 putzige Schweinchen züchtet“. Nach einer Schulung im Umgang mit der Kamera, kehrten die Dorfbewohner als Filmemacher nach Hause zurück. Der gezeigte Film ist die Sammlung der entstandenen zehnminütigen Dokumentationen über unterschiedliche Aspekte des Lebens in den Dörfern. „Die Wechselwirkung zwischen den Dorfbewohnern vor der Kamera und denjenigen dahinter kann niemals dieselbe sein, wenn der Film von einem Profi gemacht würde, der nicht aus dem Dorf kommt.“ (Wu Wenguang)
Der Realität ganz nah kommen, die Umgebung unmittelbar aufnehmen, scheint das Credo der Mehrheit der unabhängigen Filmemacher zu sein. Und in die Ästhetik übersetzt heißt es, dass Nahmaufnahmen überwiegen. Der Abstand des Filmemachers zu seinem Sujet ist geringer geworden bis dahin, dass der Filmemacher selbst in den Hintergrund tritt, und Initiator wird, wie es Wu Wenguang vormacht.
Neben Spiel-und Dokumentarfilmen lief auch eine Anzahl von Kurzfilmen, die nur in solch speziellen Filmreihen, sowie auf Filmfestivals die Chance haben, ein breiteres Publikum zu erreichen. Ähnliches gilt natürlich für DV-Produktionen überhaupt, die in China von Vornherein aus dem Kreislauf der Kinoauswertung ausgeschlossen sind. Das verschafft ihnen den Vorteil, nicht der Zensur vorgelegt werden zu müssen. Ihr Publikum aber ist begrenzt auf die chinesische Filmclubszene, auf in- und ausländische Festivals oder die DVD-Auswertung. Es gibt deshalb immer mehr unabhängige Filmemacher, die den Gang durch die Genehmigungsgremien auf sich nehmen und erreichen, dass ihre Filme im Kino gezeigt werden können. Die Zensur in China ist kein starres System mehr, es kommt oft auf einen Versuch an. Allerdings gelangen auch lange nicht alle offiziell genehmigten Filme ins Kino. Doch letztes Problem hängt eher wirtschaftlichen Überlegungen und existiert weltweit. Es hilft natürlich, wenn ein Regisseur bereits international anerkannt ist, wie es z.B. bei Jia Zhangke der Fall ist. Sein Film „Still Life“ (Sanxia hao ren, 2006) lief kürzlich auch in deutschen Kinos. Es war hierzulande der erste Film von ihm, der in die Kinos kam. „ „Still Life“ ist der Film, den ich immer machen wollte. Das Drehen auf HD erlaubt mir ein anderes Verhältnis zu Raum und Zeit. Ich kann ohne Stress filmen, abwarten und wieder neu beginnen. Der Druck ist geringer als bei der Arbeit mit Super 16 oder 35 mm. Und das gestattet mir die dokumentarische Seite der Geschichte auszubauen. Dank dieser dokumentarischen Dimension kann das unabhängige chinesische Kino eine andere (Vision der) Realität zeigen als die der offiziellen Propaganda. Die Wirklichkeit aufnehmen heißt sich der offiziellen Propaganda entgegenstellen. Die stilistische Arbeit meiner Generation besteht darin, Formen zu finden, die diese Wirklichkeit ausdrücken können. Das ist ein sehr fragiles Unterfangen, nicht allein der Zensur wegen: sich außerhalb des vorherrschenden Weltbilds zu stellen, heißt sich ins Leere vorzuwagen. Zugleich an einer Dokumentation und an einem Spielfilm zu arbeiten hilft da, dass man sich weniger verloren vorkommt. (Cahiers du Cinema 622, April 2007)
Die Filmreihe „Close up China“ wird noch bis März nächsten Jahres fortgesetzt. Aufmerksam machen möchte ich Sie gern auf zwei Filme, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Abriss auseinandersetzen: Der Mongole Hasi Chaolu hat in „The Old Barber“ (Titoujiang, 2006) einen über 90jährigen Beijinger Friseur portraitert, der in einem alten Hutong wohnt, was dem Abriss zum Opfer fallen soll. Der auf 35mm gedrehte Film zeigt den alten Mann beim Rasieren seiner gleichaltrigen Bekannten, beim Mahjongg-Spiel und beim täglichen Stellen seiner alten Uhr, die immer fünf Minuten zu langsam ist. Der Sohn des Friseurs, der selbst gerade Großvater wird, beklagt sich über fehlende Gesundheit und mangelndes Geld, während der eigene Vater so genügsam und gesund erscheint. Aber der alte Herr ist nicht einfach genügsam, sondern auch immer eitel darum besorgt, dass seine Haare richtig sitzen. Und er trifft seine Vorbereitungen für die Zukunft, wenn er einmal nicht mehr sein wird: Momentaufnahmen einer verschwindenden Welt. Die Stimmung des Films oszilliert ständig zwischen Melancholie, Humor und einer grundlegenden Ruhe.
Die Filmemacher Ou Ning und Cao Fei befassten sich im Rahmen des von der Bundeskulturstiftung initiierten Beijing Case-Projektes mit dem Dazhalan-Viertel: Dieses ehemals so belebte Viertel südlich des Qianmen-Tores wurde im Rahmen der Olympia-Vorbereitungen so wie 300 weitere innerstädtische Dörfer abgerissen, weil es als schmutzig, chaotisch und verarmt eingestuft wurde. „Meishi Street“ (Meishi jie, 2006) ist das Portrait von Zhang Jinli, der 1958 in dieser Straße geboren wurde und seit 1991 in seinem Vaterhaus ein Restaurant betreibt und der sich nicht widerstandslos umsiedeln ließ, wie viele seiner Nachbarn es bereits taten. Er befestigte Banner an seinem Haus mit Aufschriften wie: „Das staatliche Amt für Landreserven verhält sich unvernünftig in der Frage der Abrisse und Umsiedlungen“ oder „Wer kann entscheidn, was rechtens ist und was nicht?“ Die Regisseure gaben Zhang Jinli eine DV-Kamera, so dass eine spannende Mischung aus privatem und öffentlichem Leben entstand. „Wir wollten nicht an seiner Stelle sprechen,
denn dabei hätten wir doch nur unsere eigenen Gedanken mitgeteilt und seinen Erwartungen nicht entsprochen.“ So nimmt sich Zhang Jinli beim Singen allein auf seinem Balkon auf (sehr witzig), oder er bat Freunde ihn bei der morgendlichen Gymnastik im Taoranting-Park zu filmen. Auf der anderen Seite taucht die Polizei recht häufig auf, die ihn freundschaftlich wegen seiner Aktionen zurechtweist. Die nützten letztendlich nichts. Der Film endet mit der Einstellung des Hausabrisses und des weinenden Zhang Jinli.
(dnC 4/2007)