978-3-15-010933-5Zu Beginn des Jahres erschien im Reclam-Verlag die „Geschichte Chinas“. Wer da zuerst an die kleinen gelben Bändchen denkt, dem sei gesagt, dass dieses Buch mit 646 Seiten doch etwas üppiger ausfällt. Und trotzdem bleiben zunächst Zweifel, ob man denn die lange Geschichte dieses Riesenreiches überhaupt zwischen zwei Buchdeckel pressen kann. Und ob man kann! Vielfarbig und kenntnisreich gelingt es dem Autor Kai Vogelsang schon auf den ersten Seiten mit fünf Szenen aus verschiedenen Zeiten, die unterschiedlicher kaum sein können und die doch zur Geschichte dieses Landes gehören, den Leser neugierig zu machen auf Diversität, Umbrüche und ordnende Prinzipien angesichts letzterer.

Der Autor ist Professor für Sinologie an der Universität Hamburg.
Er versucht nicht, das monolithische Geschichtsbild, das mit der Phrase von der 5000jährigen Geschichte in den letzten Jahren nur allzu oft bemüht wird, zu stützen, sondern eröffnet einen Reigen an Geschichten, die die Faszination dieses Riesenreiches ausmachen und sich zu seiner Geschichte fügen. Denn die Chinesen seien Geschöpfe der Geschichtsschreibung und „China“ könne man am besten als Kollektivsingular begreifen. Ursprünglich war das chinesische Wort Zhongguo ein Plural: „es meinte die mittleren Staaten der nordchinesischen Ebene.“ [S. 14]
Jeder, der sich mit China beschäftigt, stand bestimmt schon einmal vor der gefürchteten Bitte, mal eben kurz zu sagen, wie China denn sei. Heinrich Heine wusste sich in seiner Romantischen Schule noch recht knapp zu fassen, wo es heißt: „Das ganze Land ist ein Raritätenkabinett, umgeben von einer unmenschlich langen Mauer und hunderttausend tartarischen Schildwachen.“
Ganz so einfach macht es sich Kai Vogelsang nicht. Die Chinesen sind so ganz anders als Land und Leute hierzulande und irgendwie auch genauso wie wir. Ja, was denn nun? Beides stimmt. „Nur wer die Vielfalt kennt, die hinter der Fassade der Einheit wimmelt, kann China in Geschichte und Gegenwart recht verstehen“, lautet eine seiner Thesen. In seiner „Geschichte Chinas“ handelt er nicht Kaiser und Dynastien chronologisch ab, sondern beschreibt das Leben der Chinesen und die Fülle ihrer kulturellen Schöpfungen.

Vogelsang weist gleich auf den ersten Seiten auf das Dilemma der Geschichtsschreibung hin und bestimmt damit den Weg für die Struktur seines Buches, das kaleidoskopmäßig ausbreitet und zusammensetzt, nebeneinanderstellt und nicht in eine kontinuierlich fortschreitende Linie zwängt. Zeichen dafür sind seine Exkurse, kenntlich gemacht durch die chinesische Übersetzung ihres Themas (Opium, Sklaven, Sport, Auslandschinesen u.v.m.) und einen grauen Balken an der linken Seite. Daneben gibt es Zeittafeln, 14 Karten und zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen und immer wieder Übersetzungen aus den überlieferten Geschichtswerken. Sie alle machen diese Geschichte auch zu einem Nachschlagewerk und sorgen dafür, dass der Leser beim Blättern immer wieder hängenbleibt. Vielleicht fragt man sich wieder einmal, wer das Paar im Yue Fei-Tempel von Hangzhou war, das von Besuchern bespuckt wurde. Verräter – soweit reicht die Erinnerung. Es sind Kanzler Qin Gui und seine Frau. Der ließ den General verhaften und ermorden. Allerdings war sein Vergehen, dass er für Frieden und nicht den Krieg mit den nördlichen Nachbarn eintrat. Das erscheint absurd, zumal das historische Bild feststeht und kein Chinese zweifelt daran: Yue Fei – der Held und der Kanzler – der Verräter, weil er Frieden wollte.

In neun Kapiteln breitet der Autor die Geschichte Chinas von seiner Vorgeschichte, dem klassischen Altertum und Mittelalter bis hin zum modernen China heute aus. Er kommt dabei nicht umhin, von Dynastien wie den Han oder den Ming zu sprechen, als repräsentierten sie ganz China, doch hat Geschichtsschreibung die Funktion, „die verstörende Unbeständigkeit der Welt zu kompensieren“. [S. 13] Strukturierende Elemente sind hier aber nicht die Dynastien, sondern der gesellschaftliche Strukturwandel und die damit einhergehenden Ordnungsprnzipien. So wurde im chinesischen Mittelalter die Religion zum integrierenden Moment einer Gesellschaft, die die Orientierung an der Zentrale zunehmend verlor. Oder aber im 8. Jahrhundert, als das Leben von wachsender Mobilität geprägt war, wirkte die Moral als stark ordnendes Element. So passiert es, dass geläufige historische Zäsuren, wie sie meist am Dynastienwechsel festgemacht wurden, durchbrochen werden und andere Zusammenhänge in den Vordergrund rücken.
Die Lust an der großen Geschichte, ihre Verknüpfung mit Alltag und Geschichten, macht das Buch zu einer spannenden Lektüre und die Perspektivverschiebungen liefern immer wieder Anstöße zum weiteren Nachdenken. Wer Bücher zur Geschichte Chinas bisher dröge oder schwer lesbar fand, dem eröffnet sich hier eine Alternative.

 

Kai Vogelsang: Geschichte Chinas, Reclam-Verlag, Stuttgart 2012, 646 Seiten, € 39,95, ISBN 978-3-15-010857-4.

 

(in: dnC  2/2012)

China, wimmelnde Vielfalt