Seit vielen Jahren schon geht der Philosoph und Sinologe Francois Jullien den Umweg über China, um blinde Flecken im westlichen Denken ausfindig zu machen und einer manchmal bequem gewordenen westlichen Denkungsart auf die Sprünge zu helfen. Dabei knöpft er sich dieses Mal die Schriften Sigmund Freuds zur Psychoanalyse vor.
An der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts verortet er den letzten Höhenflug westlichen Denkens, in den sein Niedergang bereits eingeschrieben ist. Sigmund Freud, so Jullien, sei ein Vertreter jener kritischen Geisteshaltung, die die festgefügten Fundamente des westlichen Denkens auch selbst zerstörte.
Die Erforschung des „Inneren Kontinents“, die Psychoanalyse, so Jullien, unterminierte die Grundfesten des souveränen Subjektes. Aber, fragt Jullien weiter, hinkt die theoretische Reflexion dem, was die psychoanalytische Kur zum Vorschein bringt, nicht hinterher?
An jenen Stellen, die Freud nicht weiter ausführte, sondern in der Schwebe beließ, weil er zu sehr der europäischen Denktradition verhaftet blieb, bringt Jullien nun China ins Spiel. Und so ergibt sich die interessante Relation zwischen dem, was Freud nicht ausdrücken bzw. denken konnte und den Gedanken chinesischer Philosophen und Weiser dazu. Letztendlich verstehen und ergänzen sie Freud besser, als er es je konnte und wir hören gespannt diesem imaginären Dialog zu. Gleichzeitig ist das wie immer Faszinierende bei Jullien,dass man eigene Beobachtungen aus dem chinesischen Alltag besser versteht, weil die Unterschiede beider Denktraditionen, der westlichen und der östlichen, nebeneinander gestellt werden.
Als erstes nimmt Jullien den Begriff der Disponibilität wieder auf, den er schon in „Der Weise hängt an keiner Idee“ (2001, Wilhelm Fink Verlag, München) erkundet hat; einen Begriff, der im westlichen Denken nie so radikal entwickelt wurde, wie in China. In Freuds „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“ (1912) findet sich auch der, sich nicht von Annahmen oder Absichten leiten zu lassen, sondern eine gleichschwebende Aufmerksamkeit zu entwickeln. Um den zunächst widersprüchlich erscheinenden Begriff, der sozusagen eine zerstreute Aufmerksamkeit fordert, näher zu erklären und weiterzudenken, als Freud es vermochte, bedient sich Jullien des chinesischen Konzeptes der Disponibilität, des absoluten Freiseins von Ideen und Absichten, des Offenhaltens aller Möglichkeiten, dem Quellgrund chinesischen Denkens. Die Erklärung von Freuds gleichschwebender Aufmerksamkeit oder der Disponibilität, einer harmonischen Integration, wurde in Europa laut Jullien immer von dem Begriff der Freiheit überlagert. Freiheit, die zugleich eine Wahl, eine Parteinahme, einen Bruch mit der vorhandenen Situation darstellt.
Auf der anderen Seite einer psychoanalytischen Sitzung steht bzw. liegt der zu Analysierende und eine ähnliche Vorschrift auch für ihn: Der solle alles sagen, was ihm durch den Kopf geht, auch wenn es ihm unangenehm sei. Auch da helfen die Chinesen weiter, denn während wir immer „etwas“ sagen müssen, was irgendwie einen Sinn ergibt, heißt es schon bei Zhuangzi „nach Gutdünken“ reden, und das „etwas“ entwischt. Alles, jede kleinste Anspielung, könnte wichtig sein.
In insgesamt fünf Konzepten, die neben Disponibilität und Anspielung, das Beiläufige, die De-Fixierung und die stille Verwandlung beschreiben, entwickelt Jullien, dass Freud anders- und weiterdenkender war als seine europäischen Zeitgenossen, dass er ein Denkmodell entwickelt hat, dem die europäische Tradition eigentlich entgegenstand. Der Psychotherapeut soll die Strategien, die wir heute aus der chinesischen Philosophie kennen, nutzen und auf die günstige Gelegenheit warten, soll durch schrägen und nicht frontalen Angriff seinen Patienten knacken. Und was bringt uns diese Erkenntnis am Ende? Einige Gedanken der fünf Konzepte kennt der Leser bereits aus früheren Schriften Julliens. Die vielleicht überraschendste Entdeckung ist, dass europäische und westliche Denktradtion bei Freud Überschneidungen finden. Wenn man noch bedenkt, dass die Psychoanalyse als westliches Konzept unter westlicher Prämisse in China eingeführt wurde und erst langsam den chinesischen Verhältnissen angepasst wurde, finden sich in diesem Bändchen viele Anregungen, Brücken zu schlagen. Nach der Lektüre bekommt man jedenfalls Lust, Freud wiederzuentdecken und zwischen den Zeilen zu lesen.
Francois Jullien: China und die Psychoanalyse. Fünf Konzepte; übersetzt von Erwin Landrichter; 159 S.; Wien, Berlin 2013, € 19.
(in: das neue China 2/2014; Ruizhong 2/2014)