„Sollen wir jetzt die Hauptgerichte zubereiten, Herr Chen?“ Dieser letzte Satz klingt verdammt nach „Fortsetzung folgt“. Dabei hegt Oberinspektor Chen Zweifel, ob dies nicht sein letzter Fall gewesen sei. War er nicht lange genug Teil des Systems und nun ist es an der Zeit dieses zu verlassen, bevor andere darüber entscheiden?
Schon zu Beginn dieses Jahres erschien der lang ersehnte neue Band Qiu Xiaolongs über die Ermittlungen des Obersinspektors Chen von der Shanghaier Polizei. Es ist die Ambivalenz des Oberinspektors gegenüber dem Sozialismus chinesischer Prägung, die den Charme der Krimis ausmacht. Als Oberinspektor ist Chen Teil des Systems, dass er außerdem gefeierter Schriftsteller und Übersetzer ist, schafft ihm gewisse Freiheiten und Distanz zu ebenjenem System.
Sein neuer Fall führt in den Sumpf der Korruption. Zhou, der Leiter der Shanghaier Wohnungsbaubehörde, hat angeblich Selbstmord begangen. Zu der Zeit wurde er in der Villa Moller festgehalten und einer Befragung durch die Disziplinarbehörde der Partei unterzogen. Diese parteiinterne Disziplinierungsmethode wird shuanggui genannt. Ausgelöst wurde sie im Fall Zhou durch ein Internetphoto, eine sogenannte Menschenfleischsuche. Zwischen diesen beiden Polen steht Chen und soll den Fall einmal wieder ohne großes Aufsehen zu erzeugen, lösen.
Plötzlich interessieren sich verschiedene Parteibehörden für den Fall. Doch wonach suchen sie? In dieser komplizierten Gemengelage schützt den Oberinspektor nicht nur sein Steckenpferd der Literatur, sondern auch, dass er in dem Fall nur als Berater fungiert. Der ermittelnde Beamte kommt nämlich ziemlich bald bei einem mysteriösen Verkehrsunfall ums Leben.
Und wieder gibt es eine schöne, junge und ehrgeizige Frau an Chens Seite. In diesem Fall ist sie Journalistin und kann ihm wertvolle Hinweise zum Internet geben. Die Anspielungen auf die jüngere Politik Chinas finden sich in diesem siebten Fall von Oberinspektor Chen besonders deutlich, dass es schon ein bisschen nervt. Da ist von Harmonie und Flusskrebsen die Rede, es wird erklärt, was die Netzbürger antreibt und wem die hohen Immobilienpreise nutzen. Das Zitat des früheren Ministerpräsidenten Zhu Rongji von den 99 Särgen hat es in Deutschland sogar bis in den Titel geschafft.
99 Särge halte er für korrupte Kader bereit, hat Zhu Rongji gesagt, und den hundertsten für sich selbst. Kann heißen, er geht mit den anderen unter, denn er ist selbst nicht besser als sie. Das Funktioneren dieser Gesellschaft gibt Rätsel auf. Man denke an das guanxi-System, vor dem niemand, auch nicht Oberinspektor Chen gefeit ist. Es ist die Schmiere, die das von extremen Unterschieden geplagte Land funktionieren lässt und zugleich auseinandertreibt: ein Rätsel eben.
Wer sich für China interessiert, erfährt hier wie immer auf vergnügliche Weise Verschiedenes über kulinarische Genüsse, chinesische Lyrik und neben aktueller Politik auch über die Stadt Shanghai selbst, wo Oberinspektor Chen ermittelt. Die Verweise auf frühere Fälle des Inspektors können Anregung sein, den einen oder anderen älteren Fall zur Hand zu nehmen, sind aber für das Verständnis kein Muss. Wie immer ist auch dieser Fall detailreich geschrieben, so dass man am Ende fast die offenen Fragen vergisst und das nicht gelöste Rätsel akzeptiert.
Qiu Xiaolong: 99 Särge, aus dem Englischen übersetzt von Susanne Hornfeck, Zsolnay-Verlag 2014, 288 Seiten, € 17,90.
(in: das neue China 4/2014)