verraten-9783716027257China 1949, Aufbruchstimmung. Weiming konnte ganz gut Englisch. Er solle sich doch bei den Ausländern bewerben, riet man ihm, die hätten bessere Jobs und bezahlten besser. Auch die Genossen fanden die Idee gut und verpassten ihm den Decknamen Gary mit den entsprechenden Ausweispapieren dazu. Noch herrschte Bürgerkrieg in China und die Amerikaner zogen sich aus China zurück. Gary solle mitgehen, so könne er dem Vaterland am meisten nutzen. Der Preis war die Trennung von seiner Frau. Gary landet schließlich in Amerika.

Ha Jin, 1956 in China geboren und seit 1985 in den USA lebend, variiert hier sein ewiges Thema. Der Roman kreist um die Zerrissenheit von Figuren zwischen zwei Ländern, um Liebe, um Loyalität. „Verraten“ nimmt im Prinzip die Frage seines vorigen Buches auf und verschärft sie. In dem Essayband „Der ausgewanderte Autor“ ging es um die Frage, ob ein Autor in der neuen Heimat in einer neuen Sprache schreiben darf oder gar soll. Diesmal geht es um Spionage. Aber um es gleich vorweg zu nehmen: Das Buch ist kein Spionage-Thriller. Garys Geschichte ist weder aufregend noch romantisch. Aus Loyalität zur alten Heimat, aus Liebe zu seiner Familie, über die er mehr erfahren will, fotografiert er CIA-Dokumente ab und übergibt sie seinem Verbindungsmann. Der ist seine einzige Brücke nach China, das einzige Verbindungsglied, was ihn seiner Familie näher bringen könnte. Aber auch er gerät in die Mühlen der Politik und Garys Kontakt zu ihm wird dadurch unterbrochen. In der Zwischenzeit lernte Gary nicht nur die neue Heimat schätzen, er gründete auch eine neue Familie. Auch diesmal haben die Genossen zugestimmt: Es sehe normaler so aus und das Land werde sich um die erste Ehefrau kümmern
Gary glaubt den Versprechungen immer wieder, ist stolz, etwas für die alte Heimat tun zu können, doch quälen ihn auch immer stärkere Selbstzweifel, ob des Versteckspiels. Sein Ringen um ein wenn schon nicht glückliches, so doch normales Leben im Strudel der Zeiten ist fesselnd beschrieben. Es ist interessant, wie einem dieser Antiheld ans Herz wächst, dabei ist er ein schlechter Familienvater und Spion dazu.

Die Geschichte dieses Gary Shang wird von seiner amerikanischen Tochter Lilian erzählt. Nach dem Tod ihrer Eltern erhält sie seine Tagebücher und begibt sich auf die Suche nach seinem Geheimnis und seiner wie auch ihrer chinesischen Familie. Als Leser begleiten wir sie bei ihrer Suche nach der Vergangenheit. Zwischen die einzelnen Kapitel ist chronologisch Garys Lebensbericht gesetzt. Beide laufen aufeinander zu, Figuren überschneiden sich und Lilian erfährt Dinge, die Gary nie wissen durfte. Dass sich die Spionagegeschichte am Ende in ihrem Neffen wiederholt, wirkt aufgesetzt und für die Geschichte überflüssig. Der Spion Gary Shang flog 1980 auf, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und nahm sich dort das Leben.
Vielleicht hat er es sogar ein bisschen drauf angelegt: Er hatte Angst vor dem Alter, Angst davor, enttarnt zu werden, Zweifel, ob China ihn zurückholen werde. Doch nicht einmal jetzt ist er fähig, selbstbestimmt zu handeln. Seine Frau Nellie benötigte Geld, um die kleine Bäckerei zu kaufen, in der sie arbeitet. Dass Gary ihr dieses Geld ausgerechnet von seinen Auftraggebern in China besorgt, ist ein Risiko, doch dient es wohl auch der Beruhigung seines Gewissens. Hatte er Nellie nicht genauso verraten, wie andere ihn? Der Geldtransfer schließlich brachte das FBI auf Garys Spur. Viel zu sehr hatte er sich in diesem Geflecht aus Lügen verheddert, als dass ein normales Leben der Ausweg hätte sein können. Vielleicht war der Schlusspunkt die einzig mögliche Befreiung. Und als Leser fragt man sich, ob man selbst immer den Punkt zur freien Entscheidung über den Lauf seines Lebens gefunden hat, auch wenn das eigene Leben kein Roman ist. Der aber wirkt weiter.

Ha Jin: Verraten,  Arche Literatur-Verlag  Zürich – Hamburg 2015, 400  Seiten,  22,99 Euro.

in: Ruizhong 1/16

Die Sehnsucht nach einem normalen Leben – Ha Jin: Verraten