Liu Lin: Herzlich Willkommen Li Luo, ich möchte Sie zunächst bitten, etwas über den Ausgangspunkt dieses Films zu sagen.
Li Luo: Ich habe bereits 2012 begonnen, diesen Film zu drehen. Da gab es eine Kunstaktion, die Donghu – Kunst – Plan (东湖艺术计划), die großen Einfluss auf das Projekt hatte. Sie wurde von Wuhaner Künstlern ins Leben gerufen, die alle Leute, nicht nur Künstler, aufriefen, sich daran zu beteiligen. Es gab dafür einen konkreten Anlass: Eine Immobilienfirma begann an einer Ecke des Sees einen Vergnügungspark und Wohnhäuser zu errichten. Das Besondere war, dass dafür der See aufgefüllt und ganze Dörfer umgesiedelt werden sollten. Das stieß auf Widerstand. Anfangs gab es Presseberichte darüber, aber irgendwann interessierte sich niemand mehr dafür. Ein paar Freunde von mir meinten, dass man etwas machen müsse und starteten den Aufruf. Jeder konnte sich beteiligen und mit einem Projekt zum Donghu kommen. Anschließend wurde das Material ins Internet gestellt, so dass man keine Ausstellung in einer Kunsthalle o.ä. organisieren musste. Die Aktion Donghu – Kunst – Plan fand erstmals 2010 statt. Damals war ich zwar noch im Ausland, aber meine Freunde haben viel darüber erzählt. Jetzt beim 2. Mal konnte ich mit von der Partie sein, wir haben viel über die Herangehensweisen gesprochen und ich wollte einen Film darüber machen. Damals schwebte mir zuerst eine fiktive Geschichte vor, dann aber wollte ich die verschiedenen Projekte in den Film einbringen. Durch Untersuchungen, Gespräche und Interviews, indem ich zu Orten, wie dem Vergnügungspark Happy Valley (欢乐谷) gefahren bin und Aufnahmen gemacht habe, kristallisierte sich nach und nach eine Struktur heraus. Schließlich habe ich sogar den ursprünglichen, fiktiven Teil beibehalten. Ich brauchte sehr lange, um das ganze Material zusammen zu bringen, die Dokumente mit der Fiktion zu verbinden. Der Film ist anders als meine früheren Arbeiten, offener, Fiktion und Dokumentation sind nicht so klar voneinander getrennt.
Cheng Jialiang: Es gibt im Film die Diskussion über Kastrationsängste des Mannes, war die im Drehbuch oder ist sie spontan entstanden? Und am Ende, wenn Li Wen zu dem Pfeiler im See schwimmt, stand das so schon im Drehbuch?
Li Luo: Zuerst muss ich betonen, dass das Drehbuch hier nur eine vage Vorgabe ist. Es ist nicht wie bei kommerziellen Filmen nach strengen Regeln verfasst, so dass viel Platz für Improvisationen blieb. So auch dieser Dialog, der spontan entstanden ist. Ich hatte beobachtet, dass die beiden Darsteller im wirklichen Leben solche Konflikte hatten und wollte sie auf den Film übertragen. Anfangs klappte das nicht, sie wollten sich nicht wirklich streiten, aber als wir ein zweites Mal drehten gerieten sie ziemlich aneinander. Das Thema habe ich nicht bestimmt, ich habe ihnen nur eine ungefähre Richtung angezeigt und dann haben sie losgelegt. Im Nachhinein, beim Schnitt konnte ich dann ein bisschen eingreifen. Dass sie über das Problem der Kastrationsangst reden, war nicht geplant. Am Ende des Films, als Li Wen zu dem Pfeiler schwimmt, habe ich nicht über die Symbolik nachgedacht. Es war einfach ein gutes Bild. Den Pfeiler haben wir übrigens nicht extra dort plaziert, er ist immer da.
Cheng Jialiang: Ich glaube, deine Arbeitsweise unterscheidet sich von der anderer Filmcrews, wo es jeden Tag einen festen Drehplan und eine festgelegte Arbeitsteilung gibt. Wie war das bei diesem Film? Hast du Li Wen die Szenen erläutert, ihm gesagt, von wo nach wo er gehen soll, wie er spielen soll? Hört er überhaupt auf dich? Oder bringt er seine eigenen Ideen in den Film ein? Und als er den fertigen Film gesehen hat, wie fand er ihn?
Li Luo: Das ist richtig, unser Team war sehr klein und wir haben alle alles gemacht.Ich habe wenn nötig, die Rolle des Produzenten übernommen und die anderen über den Fortgang der Dinge informiert. Vor dem Dreh haben wir nicht viel geprobt. Li Wen hat nicht mal das Drehbuch gelesen.Ich habe ihm die Szene kurz erläutert und wir haben ein bisschen rumprobiert, alles recht ungezwungen. Aber doch so weit vorbereitet, dass er sich dann in die Szene hineinversetzen konnte. Als er den Film gesehen hat, war er recht zufrieden, weil er einfach das machen konnte, was er gern wollte. In dem Film kommt sein wirklicher Charakter zum Tragen. Die fiktive Figur und sein wirklicher Charakter sind sich sehr ähnlich, so wie auch die anderen Figuren. Derjenige, der den jungen Polizisten spielt, war früher tatsächlich auf der Polizeischule. Er ist dann zwar nicht Polizist geworden, aber er bringt doch einige Erfahrung für die Rolle mit. Und das Mädchen forscht wirklich zur Homosexualität. Jeder brachte seine Erfahrungen und sich selbst in den Film ein.
Cheng Jialiang: Die Darsteller haben also keine Rolle gespielt.
Li Luo: Zumindest nicht ganz. Jeder hat natürlich auch ein bisschen gespielt, aber ich glaube, meist nicht.
Liu Lin: Mir ist aufgefallen, dass du von I went to the Zoo the other Day (去了一趟动物园, 2009), Rivers and my Father (河流与我的父亲, 2010) über Emperor Visits Hell (唐皇游地府,2012) bis Li Wen at East Lake (李文漫游东湖, 2015) immer Menschen in einem Raum beschreibst, die Situation, ihr Verhalten in einer bestimmten Umgebung. Kannst du darüber was sagen?
Li Luo: Das stimmt, die Filme, haben alle mit einem konkreten Ort zu tun. Ich interessiere mich für Menschen in einem Raum, in einer bestimmten Umgebung, ihre Beziehungen untereinander, da gibt es viel zu entdecken. Ich habe früher wenig daüber nachgedacht, aber nach Gesprächen mit den Initiatoren vom Donghu – Kunst – Plan fand ich, dass das Thema spannend ist. Es hat viel mit Macht, Politik, körperlicher Präsenz zu tun. Schon in ganz alltäglichen Handlungen zeigt sich das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft. Jedes Mal, wenn ich aus dem Ausland zurück kam, bemerkte ich die großen Veränderungen, vor allem in den Städten, wie zum Beispiel Wuhan. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Menschen. Meine Wahrnehmung des städtischen Raums und meine persönlichen Erinnerungen stehen im Widerspruch zu den Veränderungen oder anders gesagt, es besteht eine Spannung zwischen ihnen. Das alles ist in den Film mit eingeflossen, ist aber eher ein emotionaler als ein theoretischer Zugang zu dem Thema.
Liu Lin: Ich möchte noch mal auf die Hauptfigur Li Wen zurückkommen. Du hast gerade gesagt, dass die Rolle und ihr Darsteller im realen Leben sich sehr ähnlich sind. Mir ist die Figur vertraut, für mich repräsentiert sie den chinesischen Intellektuellen in mittleren Jahren. Ist das so?
Li Luo: Ich sehe ihn nicht als repräsentative Figur, für mich ist er ganz konkret, denn wir sind enge Freunde. Er macht ja Vieles, aber er würde nie von sich behaupten, er sei ein Intellektueller. Er liest zum Beispiel wenig. Er fogt vielmehr seinen Erfahrungen, seinem Instinkt. Er geht offen auf andere zu und operiert auch im wirklichen Leben auf verschiedenen sozialen Ebenen. Deshalb sagte ich, dass die Filmrolle und seine Person im richtigen Leben sich sehr ähnlich sind. Etwas an ihm ist schon sehr typisch, aber doch anders als bei den meisten Leuten in mittleren Jahren. Wenn man mit ihm gemeinsam Dinge entdeckt, hat man einen ganz anderen Menschen vor sich.
Liu Lin: Ich finde, du packst hier Mythen, Geschichte und Politik zusammen und lässt sie auf engem Raum miteinander interagieren. Chinas gegenwärtige Lage ist ja auch recht seltsam und ungreifbar. Ist diese Wirklichkeit für dich eher ein moderner Mythos oder eine historische Renaissance?
Li Luo: Ich bin da nicht aus akademischer Perspektive rangegangen. Aber dieser Teil mit den Mythen, von dem du sprichst, das interessierte mich einfach. Das ist, was die Anwohner des Sees erzählt haben. Auch wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen haben, sie glauben daran. Für sie ist es Realität und kein Mythos. Die chinesische Realität ist alt kompliziert und bizarr. Aber ich wollte sie im Film nicht analysieren, sondern lediglich ein paar bemerkenswerte Punkte aufzeigen und Fragen anstoßen.