Für die meisten Regisseure gilt, je länger sie im Geschäft sind, desto aufwändiger und teurer werden ihre Filme. Bei Tsai Ming-liang ist das Gegenteil der Fall: Seine Filme werden handwerklich immer ausgefeilter und freier. Der einzige chinesischsprachige Wettbewerbsbeitrag auf der 70. Berlinale ist sein Film Days, eine Besinnung auf das Wesentliche, ein kleiner feiner Film einfach und unaufgeregt. Die Filmfiguren tun, was sie tun müssen, ohne sich Geld oder Handlung zu unterwerfen, und die Bilder konzentrieren sich auf das Licht der vorüberziehenden Tage.
Gemüse waschen, Essen zubereiten, duschen, spazieren gehen – die wiederkehrende Routine wird nur selten mithilfe langer Einstellungen eingefangen. Days zeigt diese alltäglichen Verrichtungen wie ein Gedicht, gefilmte Zeit ruhig dahinfließender Tage. Auf Dialog kann verzichtet werden, man muss nichts erklären.
Days begann mit Lee Kang-shengs Krankheit. Als Tsai Ming-liang in Bangkok den aus Laos stammenden Anong traf, begann er auch dessen Leben zu filmen. Sowohl Lee Kang-shengs Krankheit als auch der Fakt, dass Anong als Koch arbeitet, sind wahr. Ihr Aufeinandertreffen aber und ihre sexuelle Begierde sind filmische Fiktion. Days kann man also als Spielfilm mit einer dokumentarischen Seele bezeichnen. Er zeigt zwei einsame Menschen in einem fremden Land, einen jeden in seiner Welt. Die große Stadt wirkt abweisend. Metallene Drehtüren, eiserne Geländer, blechbelegte Dächer trennen die einzelnen Bereiche voneinander. Die Totale zeigt Kang (Lee Kang-sheng) und Non (Anong Houngheuangsy) als zwei Pünktchen in der Masse, traurige Gesichter im Straßengewimmel, zwei Menschen, die kurz zusammentreffen, bevor sich ihre Wege wieder trennen.
Lee Kang-sheng ist hier nicht der langsame Spaziergänger aus der Walker-Serie, sondern eher der Liegende. Vor der Kamera nimmt er die verschiedensten Lehn- und Liegeposituren ein. Mal legt er heiße Kohlen in seinen Nacken, mal liegt er mit geschlossenen Augen in heißen Quellen, oder Nahaufnahmen zeigen den auf einem Kopfkissen Ruhenden: Das erinnert an Tsai Ming-liangs Your Face. Wenn der Spaziergänger ein sich in Zeitlupe bewegender meditierender Mönch war, dann ist der Liegende ein unbeweglich der Linderung Harrender.
Tsai Ming-liang hat filmische Wege in eine neue Zeit eröffnet und findet in seinem 11. Spielfilm eine neue Muse. Anong ist einer der Wanderarbeiter auf der Suche nach einem Auskommen. Seine Begegnung mit Lee Kang-sheng bedeutet auch das Zusammentreffen von Tsai Ming-liangs Wegbegleiter und Alter Ego aus 30 Jahren Film mit einem neuen Gesicht, ohne Nationalität, ohne Sprache, ohne Konventionen sozialer Schichten – was bleibt sind Menschen, Gesichter und Tage.