Als Jia Zhangke Xiao Wu (小武 , 1997) drehte, kannte er weder Zhao Tao noch hatte er seinen eigenen Stil gefunden, aber mit viel Herzblut fing er die Sehnsüchte und Enttäuschungen junger Menschen in chinesischen Kleinstädten inmitten der damaligen Umbrüche ein. Ein paar Jahrzehnte später ist er vielleicht nicht mehr der draufgängerische junge Mann, seine Erzählungen sind reifer und dichter geworden und die von Zhao Tao, Liao Fan oder Jiang Wu verkörperten Habenichtse und Outsider strahlen heller denn je. Sein Interesse gilt nicht nur dem eigenen künstlerischen Ausdruck, auch was die Seite der Filmproduktion und -vermittlung anbelangt, hat er sein Universum erweitert: etwa mit der Gründung des Pingyao-Filmfestivals und der Ausweitung filmischer Aktivitäten vor Ort in Shanxi. Als Produzent fördert er junge Regietalente und insbesondere Frauen. Ein Stück von diesem Kosmos können wir in Berlin erleben, wo im Berlinale Special sein Film Swimming Out Till the Sea Turns Blue ( 一直游到海水变蓝) läuft, das Forum zeigt den von ihm produzierten Film The Calming (平静, Song Fang), im Sonderprogramm On Transmission spricht er mit dem Pingyao-Gewinner Huo Meng, und sein Film Xiao Wu wird wiederaufgeführt.

Jia Zhangkes neuer Dokumentarfilm richtet den Blick auf die im Prozess der Urbanisierung an den Rand gerückten Dörfer, zeigt die Mühen der Bauern in der neuen Zeit, durchdrungen von den Erinnerungen dreier Schriftsteller, die über ihre ländliche Heimat schreiben. Die Struktur von Swimming Out Till the Sea Turns Blue ähnelt dem vor zehn Jahren gedrehten Dokumentarfilm I Wish I Knew (海上传奇), der zusammen mit Dong (东) und Useless (无用) eine Künstler-Trilogie bildete. Andere Filme kommen einem in den Sinn, wie etwa Tsai Ming-liangs Your Face (你的脸), wenn man Nahaufnahmen von Gesichtern alter Menschen zu Beginn des Filmes sieht; oder Wang Bings He Fengmin (和凤鸣), wo ebenfalls mittels der Vergangenheit Aussagen über das Heute getroffen werden; oder auch 24 City (二十四城记), wo über individuelle Erlebnisse die große Geschichte verhandelt wird. Drei Schriftsteller unterschiedlicher Generationen erinnern sich in dem Dokumentarfilm an die vergangenen 70 Jahre: Jia Pingwa, Yu Hua und Hong Liang. Hinzu kommen Interviews mit Ma Fengs Tochter und der Schwester von Liang Hong, sowie Statements von Schriftstellern anlässlich der Literaturtage in Jiajiacun, Shanxi. Die 18 Kapitel sind wie ein Fluss, der auf seinem Lauf Themen und Personen streift, eine jede Geschichte unterlag dem Auf und Ab der gesellschaftlichen Veränderungen seit 1949. Die einzelnen Kapitel schließen mit Gedichtrezitationen oder Aufnahmen von Feldarbeit, wie in Bildern von Leon Augustin Lhermitte.

Der Fluss steht im Zentrum des Films. Ma Fengs Tochter spricht über den Stillen Don und den Einfluss des Buches auf ihren Vater. Liang Hong denkt, dass der Fluss in ihrem Dorf Ursprung des Schönen sei und jede menschliche Existenz übersteigt. Yu Hua erzählt, dass das Meer seiner Kindheit gelb war und er so lange hinausschwimmen wollte, bis es blau würde. Der Fluss symbolisiert auch das Vergehen der Zeit und Jia Zhangke findet kontrastreiche Bilder, um die gewaltigen Veränderungen zu zeigen: Die Kamera zeigt das Fenyang aus Xiao Wu und Platform wie auch das heutige, zeigt Arm und Reich auf dem Bahnhof von Xian, Wartende in altmodischen Friseurläden und sprachbegabte Schriftsteller – begleitet werden sie vom Heldentenor Pavarottis. Leben heißt Leiden, sie sind die tragischen Helden unserer Zeit.

Jia Zhangkes filmischer Kosmos
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