Ich stieß im Jahr 2000 zum ersten Mal auf das Buch Postdramatisches Theater. Damals war ich als Studentin der Theaterwissenschaft gerade aus den USA nach Deutschland gekommen und hatte ein paar Inszenierungen gesehen, die so ganz anders waren, als alles, was ich bisher kannte. Als ich das Buch las, spürte ich, dass es auf viele meiner Fragen in Bezug auf die neuen Theaterformen Antworten fand. Hans-Thies Lehmann beschrieb die neuen Theaterphänomene mit dem Begriff des „postdramatischen Theaters“. Die Theatergeschichte unterteilt er in prädramatisches, dramatisches und postdramatisches Theater. Gemäß dieser Periodisierung verweist er auf eine große Veränderung, die seit den 1960er Jahren im Gange ist. Ich denke, dass diese Theorie eine große Hilfe für chinesische Theaterwissenschaftler und -praktiker ist und habe deshalb das Buch übersetzt.
Die vier Jahre währende Übersetzung war eine große Freude, wenn auch nicht ganz frei von Schwierigkeiten. Der Kernpunkt des Buches ist die klare Unterscheidung der Begriffe Drama und Theater. Ich entschied, Drama mit 戏剧 und Theater mit 剧场 zu übersetzen. Das chinesische Wort für Theater, 剧场, setzt sich aus zwei Zeichen zusammen, davon das erste aus dem Phonem 豦 ju, veraltet für Wildschwein, und dem Radikal刂 Messer. Das von Xu Shen um das Jahr 100 zusammengestellte erste Lexikon des Chinesischen erklärt 豦 ju folgendermaßen: Der Kampf ist ergebnislos. Das Zeichen ju 豦 ist aus 豕 Schwein und 虍 Tiger zusammengesetzt. Der Kampf zwischen ihnen hat kein Ergebnis. […] Das zusammengesetzte Zeichen剧 bedeutet exzessiv oder schwierig, das heißt: die Energie ist stark, die Interaktion ist stärker als gewöhnlich. Lehmann verwendet in seinem Buch auch den Begriff „Energetisches Theater“. Auch ohne die Silbe 剧 ju im Chinesischen bezeichnet das Wort den Ort des Geschehens. Das zweite Zeichen 场 – Ort ist ebenfalls aus zwei Teilen zusammengesetzt: nämlich aus dem Radikal 土 tu für Erde und dem Phonem 昜 Yang. Die ursprüngliche Bedeutung von Yang ist aussäen, verstreuen. Wenn dazu die Komponente Erde kommt, wird daraus: Saatgut auf der Erde verstreuen, letzteres Zeichen wird für alle Orte menschlicher Handlungen benutzt, wie zum Beispiel: Tanzbewegungen finden an Orten statt, wo Menschen ihre Fähigkeiten und Künste vorführen (aus dem Stück: Den Gästen antworten von Ban Gu). Das Kangxi-Lexikon gibt gleich mehrere Beispiele: Zur Erde, wo Krieg stattfindet sagt man Kriegsschauplatz. Tempel sind Orte, wo Mönche ordiniert werden. Immer kommt darin 场 als Ort oder Platz einer menschlichen Handlung vor. In seinem Buch Postdramatisches Theater betont Lehmann auch, dass Theater im Altgriechischen ein Schauplatz – theatron – ist. Aus all den genannten Gründen habe ich Theater mit 剧场 juchang übersetzt.
Seit die Übersetzung von Postdramatisches Theater 2010 erschien, gab es immer wieder Dispute unter Akademikern. Zuerst dachte ich, sie bezögen sich auf meine Übersetzung des Wortes Theater. Aber nach und nach fand ich heraus, dass es nicht um die Übersetzung einzelner Begriffe ging, sondern den chinesischen Theaterwissenschaftlern war der Begriff Theatralität 剧场行 – juchangxing fremd.
Theatralität wird meist mit 戏剧性- xijuxing übersetzt und damit dem Drama als wesenseigen zugeschrieben. Das unterschiedlichen Begriffe für Theatralität führten zu Missverständnissen bis hin zur Ablehnung des postdramatischen Theaters.
Das war die Situation, als 2010 Lehmanns Postdramatisches Theater in China erschien. Während es auf Ablehnung und Proteste bei einigen stieß, fand es großen Anklang bei Theaterleuten, die außerhalb des Systems arbeiteten. Li Jianjun sagt, ihn habe das Buch sehr beeinlusst, denn es entwerfe eine Welt des postdramatischen Theaters, die in deutlichem Kontrast zum traditionellen dramatischen Theater steht, welches ästhetische Formen ständig wieder reproduziere und seine Arbeitsmethode darauf aufbaue. Und Li Ning meinte: „Bevor ich das Buch gelesen habe, fühlte ich mich nirgends zugehörig. Nach dem Lesen kannte ich endlich meine Position.“
Offensichtlich waren es vor allem unabhängige Theatermacher (独立剧场创作者) wie Li Jianjun, Li Ning, Wen Hui oder Wang Mengfan, die sich für das Buch interessierten. Und in dem Begriff „unabhängige Theatermacher“ benutze ich ganz bewusst wieder juchang für Theater, denn hier geht es nicht in erster Linie um die Theatralität einer Geschichte, sondern um den Ort und die Performance der Inszenierung. Chang – der Platz oder Ort verweist nicht nur auf den physischen Raum, sondern auch auf eine organische, interaktive Beziehung zwischen Darsteller und Zuschauer. Die unabhängigen Theatermacher benutzen dieses Wort selbst, um ihre eigenen Arbeiten zu beschreiben.
Paper Tiger verwende seit den 1990er Jahren immer das Wort juchang – Theater, um sich zu beschreiben. xiju – Drama ist ein Begriff aus der Literatursprache, juchang hingegen betont mehr den Raum und die Aufführung. Seit seinen Anfängen sei Paper Tiger gegen Vertextlichung, folglich kämen die Begriffe Theater und Performance öfter vor“, erklärt Tian Gebing. Wang Mengfan sagt dazu: „Ich arbeite nicht mit professionellen Tänzern oder Schauspielern zusammen, sondern mit ganz normalen Menschen. Ihre soziale Identität beziehen sie aus einer Art Kollektivität. Es geht nicht darum, ob das jetzt Tanz oder Theater ist, sondern um die Frage, wie wir solche Körper präsentieren und betrachten und warum wir sie sehen wollen. Im Theater ist ihre Präsenz eng mit der Aktion verbunden und nicht mit Sprache. Deshalb denke ich, dass meine Werke besser mit dem Wort juchang – Theater beschrieben sind als mit xiju-Drama.“
Die eigene Aufführungspraxis eher mit juchang, dem Ort der Theateraufführung als xiju der Aufführung eines Spiels oder Stücks zu definieren reflektiert auch die Ablehnung der sprachlichen Vorherrschaft innerhalb des herkömmlichen Theaterbetriebs. Li Ning dazu: „Ich habe eine instinktive Abneigung gegen das Drama, vielleicht weil ich auf einem Compound für Armeeangehörige groß geworden bin. Wenn im Kulturhaus eine Theatertruppe auftrat, durfte ich nie mit dabei sein. Als ich mich später selbst mit Theater befasste, sagte man mir, deine Arbeiten sind Anti-Stücke. Genau das war’s: Danach verwendete ich ganz bewusst dieses Wort.“ Zhang Xian sagt, er verwende für fast alle Arbeiten den Begriff Theater-Arbeiten, auch für nichtdialogische Texte, die er Diskurs-und Aktionstheater nenne. Und auch kreative Aktionen außerhalb der Kunst hießen bei ihm Theater. Wen Hui außert sich knapp und präzise: „Die Arbeiten des Living Dance Theaters müssen als Theater bezeichnet werden, sie sind auf keinen Fall Drama.“
Die neue Theaterästhetik hat von Anfang an mit der Marginalisierung der unabhängigen Theaterszene aufgrund fehlenden Geldes zu tun. Die Theatermacher müssen oft unkonventionelle Orte außerhalb der Stadtzentren für ihre Aufführungen finden. So tritt das Zelttheater in temporären Theaterzelten auf. Die Caochangdi-Kommune aus Beijing lebte und arbeitete in einem sogenannten städtischen Dorf außerhalb des 5. Rings. Die Grasbühne aus Shanghai spielt in Kulturhäusern, Hotelfoyers, Museen und Schulen. Li Ning tritt am Stadtrand von Jinan in leerstehenden Gebäuden auf. Und Zhang Xian, dessen eigene Stücke Vorlagen für zahllose Inszenierungen sind, fasst den Begriff Theater extrem weit: Alle Formen, in denen öffentliche Räume besetzt werden, also auch Interwiews, Netzveröffentlichungen oder Flashmobs nennt er Theater.
Da drangt sich das Thema Zentrum – Stadtrand geradezu auf. Für unabhängige Theatermacher gehört das Besetzen öffentlicher Räume zum kreativen Prozess. Die Auftritte an unkonventionellen Orten schaffen neue mobile zwischenmenschliche Interaktionen. Der nicht-referentielle Umgang mit dem Körper, das Neudenken von Örtlichkeiten und neue interpersonelle Beziehungen machen dieses Theater zu einer besonderen Landschaft.
Man könnte sagen, weil der Raum begrenzt ist, entstand unter den Theatermachern die Wichtigkeit des Ortes chang. Für die Theatermacher im konventionellen Theaterbetrieb lässt sich das nicht behaupten. Dazu noch einmal Li Ning: „In meinen Werken verweist der Körper auf den Raum und seine materielle Beschaffenheit und schafft daraus Aktion. Oder wie ich es oft nenne: Raum bestimmt den Menschen, je mehr der ihn respektiert, desto mehr Macht hat er. Ich schätze mich glücklich, mit dem International Factory Theatre Festival Laiwu (IFTFL) ein eigenes Kunstwerk geschaffen zu haben. Es tritt mit einem Dorf, Fabrikgelände, Wohnviertel, oder einer Stadt in Dialog und schafft eine neue Landschaft.“ Im Oktober 2018 kuratierte Li Ning das erste IFTFL in Shandong. Absicht war es, die verlassenen Industriegebäude als Aufführungsorte zu öffnen und dort speziell für den Ort designte Aufführungen abzuhalten. Eine Idee, die genau auf das Wort juchang – Theater als Ort der Aufführung passt.
Unter dem Druck steigender Mieten in den Großstädten haben nicht wenige Theterleute ihre angestammten Aufführungsorte verloren. In Beijing, dem kulturellen Zentrum des Landes suchen Theaterschaffende unter dem Slogan „Drama“ nach kleinsten Räumen. Gleichzeitig öffnen Festivals wie das Nanluoguxiang-Theaterfestival, das Wuzhen-Theaterfestival oder das Jugendtheater-Festival Beijing ihre Theaterräume für unabhängige Produktionen und signalisieren damit Akzeptanz. Das ist eine Grund, warum seit 2010 die Kontroverse zwischen 戏剧 – Drama und 剧场- Theater oder Aufführungsort nicht mehr so scharf wie früher geführt wird. Die ursprüngliche Kontroverse um das Buch Postdramatisches Theater macht nun eher dem Austausch Platz. Der Prinzipienstreit bereichert inzwischen sogar die Kreativität und mündete in Zusammenarbeit.
Nachdem sein Buch in China erschienen war, hat Lehmann hier Vorlesungen gegeben und damit direkt die unabhängigen Theaterschaffenden unterstützt. Es müsse für unabhängiges Theater einen Platz in China und auf der Welt geben. 2018 war er schließlich Berater des ersten International Factory Theatre Festival Laiwu, wo er sich in Vorträgen und Workshops für besondere Aufführungsorte des Theaters stark machte.
Das Buch „Postdramatisches Theater“ erschien vor fast zehn Jahren in China. Aber auch heute ist der Raum des unabhängigen Theaters begrenzt und die Situation ernster denn je. Von außen betrachtet sucht die frühere Kolonie Asien nach einer eigenen Sprache, kämpft in einer von der westlichen Kultur dominierten Welt um Raum und Redefreiheit.
Hans-Thies Lehmann verwies darauf, dass die Stärkung des Ortes zugleich auch die Aufgabe einer Besonderheit des traditionellen chinesischen Theaters bedeute, wenn sich das von ihm beschriebene Theater in China ausbreitet. Die Diskussionen sind noch lange nicht vorbei.
Der Artikel erschien in der Zeitschrift „Theater“, April 2019.
Li Yinan ist Professorin an der Zentralen Theaterakademie China und leitet den Bereich Dramaturgie und Angewandte Theaterwissenschaft. Sie studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Beijing, New York, Hamburg und München und schloss ihr Studium mit der Promotion ab. Sie lehrt in München, Frankfurt und Beijing. Außerdem ist sie Mitglied des Auswahlkommitees für das Tokioter Theaterfestival, sowie dramaturgische Beraterin an der Caochangdi- Workstation. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Einführung des Konzepts und der Arbeitsweise der Dramaturgie in China. Zu ihren Theaterarbeiten gehören To Have and have not (有冇, 2015), Home (家,2016), In the Dream Land (赢得尊冷, 2017), Die Räuber vom Liangshanmoor (水浒, 2017)、Der schwarze Tempel (黑寺, 2017)