In vorderster Linie zu stehen, heißt immer auch am Rand zu stehen. Dort, wo verschiedenste Themen und Formen aufeinandertreffen. Hier wird gekämpft und gelitten, es ist ein unsicherer, ein instabiler Platz. Die Avantgarde-Kunst und mit ihr auch das Avantgarde-Theater hatten in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts diesen Platz besetzt. Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts wurde das Avantgarde-Theater ein gewinnbringendes Aushängeschild und aus der Avantgarde-Kunst wurde Gegenwartskunst; so wurden beide Teil des nationalen und internationalen Mainstreams. Mit dem Erfolg büßten sie ihre Vorreiterrolle ein. Die ursprünglich im Avantgarde-Theater enthaltene Kraft und Spannung ging allmählich verloren. Aber an den Rändern der Gesellschaft sammelten sich bereits neue Kräfte. Sie kamen nicht aus dem staatlichen und bereits völlig kommerzialisierten Theaterbetrieb und verfolgten ganz andere Ziele.

Zu Beginn des Jahres 2004 reiste der koreanische Theatermacher Chang So-Ik nach Shanghai und Peking, um Stücke auszuwählen, die am Madang-Theaterfestival in Kwangju teilnehmen könnten. Schließlich erklärte er, dass das Renyi (das Volkskunst-Theater in Beijing) und andere bürokratische und kommerzielle Einrichtungen viel zu weit von seinem Verständnis des Begriffes “Volk” entfernt seien, und lud ein paar Off-Theater-Produktionen ein. Ihre Reise nach Kwangju sollte großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des chinesischen Theaters haben. Die angesichts der Beziehung zwischen Theater und Gesellschaft von Idealismus durchdrungenen Theatermacher schlossen sich dem ostasiatischen Netzwerk der Madang-Theaterbewegung an. Die Grasbühne aus Shanghai war eine von ihnen. In Kwangju traten der Autor und ein paar junge Akteure mit einem kollektiv entstandenen Werk auf. In den folgenden Jahren holten sie immer mehr Laien auf die Bühne, die hier ihre Beziehungen zur Gesellschaft und ihre Lebensformen hinterfragten. Die Grasbühne versucht, ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber jeglichen Einrichtungen oder Systemen zu wahren und die Beziehungen zwischen Theater und Gesellschaft auszuloten. So entstanden Stücke, wie Lu Xun 2008 oder Geschichte eines Wahnsinnigen, die nationale wie auch internationale Aufmerksamkeit errangen.

Ebenfalls 2005 wurde mit Hilfe der Madang-Theater-Bewegung in Hongkong und Taiwan die kantonesische Theatergruppe Kapokblüte gegründet. Sie knüpft an das Madang-Theater an, treibt das Stadtteiltheater voran und initiierte u.a. auch eine Madang-Theater-Konferenz. In diesen wenigen Jahren haben die Off-Theater-Truppen nicht nur die Theatersäle in Besitz genommen und versucht, das Theater zu verändern, sondern haben es auch aus den Häusern herausgegelockt. Sie greifen gesellschaftlich relevante Themen auf, ringen um Auftrittsrechte und hoffen, durch die gemeinschaftliche Form des Theaters gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, die durch die Versuchungen des Individualismus bedroht ist.

Unter dem Einfluss des Madang-Theaters und angespornt von gesellschaftlichen Bewegungen soziokulturellen Fragestellungen, begannen auch die bislang auf der untersten Stufe der Gesellschaftshierarchie stehenden Wanderarbeiter, das Theater zu erobern und die eigene Stimme zu erheben. Anfang 2008 gründete der „Kunstverein junger Wanderarbeiter“ in einem Außenbezirk Pekings das „Neue Arbeitertheater“. Aus Anlass des Frühlingsfestes initiierten sie ein eigenes Kunstfestival und inszenierten mit Wanderarbeitern aus verschiedenen Gebieten des Landes das Stück Unsere Welt, unser Traum.

Ebenfalls im Jahr 2005 erlebte China etwas nie Dagewesenes: Das Off-Theater bekam einen Ort – die Werkstatt am Unterlauf. Ins Leben gerufen von Wang Jingguo (王景国) stellt sie Theatermachern kostenlos Räume zur Verfügung, organisiert Theaterfestivals und ein jährliches Filmfestival. Die Werkstatt ist für die Theaterszene in Shanghai und in den angrenzenden Gebieten von unmittelbarer impulsgebender Bedeutung und wurde zum Symbol des Non-Profit-Theaters landesweit. Der frühe Avantgarde-Dramatiker Zhang Xian (张献) ist auch mit von der Partie. Mit jungen Tänzern gründete er das Tanzensemble „Zuheniao“ und ist der Werkstatt eng verbunden. Mit neuen Konzepten und Attacken gegen das Mainstream-Theater versucht er dieses junge Theater theoretisch zu untermauern.

In unserer Zeit der großen Veränderungen sind es v.a. Alltagserfahrungen, die hier auf die Bühne gebracht werden. Alltagserlebnisse werden eins zu eins umgesetzt und Probleme direkt angesprochen. Soziale Fragen bilden das Fundament dieses Theaters. Aber anders als im kommerziellen Theater werden sie hier nicht vorgeführt, um sich zu amüsieren. Wenn die Theatergruppen auch aus verschiedenen Landesteilen kommen, so ist ihnen doch eine Einstellung zum Realismus gemeinsam.

Anders als beim scheinheiligen Realismus früherer Jahre führen die gesellschaftlichen Zwänge zu heftigen Reaktionen. So unterschiedlich auch die Ausdrucksformen sind, Ziel ist der Erkenntnisgewinn des Zuschauers. Hier wird nichts beschönigt. Die Schauspieler sind Leute wie du und ich und keinem Kassenerfolg unterworfen. Sie wollen ihr Theater, ihr Spiel zur Diskussion stellen und so ein Teil der Öffentlichkeit sein. Man könnte das Ganze auch “soziales Theater” nennen. Seit 2005 ist dieses unmittelbare Ergebnis des Aufeinandertreffens chinesischen Theaters und der Gesellschaft auf dem Vormarsch. Der nächste Schritt wäre die Herausbildung eigener ästhetischer Merkmale und dazu ist dem jungen sozialen und chinesischen Madang-Theater eine weite Verbreitung zu wünschen.

Zhao Chuan, geboren 1967 in Shanghai, ist Autor, Dramatiker und Kunstkritiker. Er ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter der Grasbühne (草台班). Zhao Chuan setzt sich für das „Theater von unten“, für das Non-Profit-Theater und deren internationale Vernetzung ein. Seine Stücke wurden in China, Hongkong, Taiwan, Korea und Japan aufgeführt. Er erhielt den Lianhe Wenxue (Unitas)-Preis für junge Autoren, Taipeh, bekam ein Arbeitsstipendium des Australia Council for the Arts und war Stadtschreiber in Taipeh. Zhao Chuan ist Gastlektor an der Peking Universität, der Chinesischen Kunstakademie und der New York University.

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Nach der Avantgarde: neue Ausdrucksformen und Gesellschaftskritik
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