Es war früher schon das Vielvölkergemisch, die verschiedenen Traditionen und Lebensweisen, die den Mythos Shanghai begründeten. Diese Vielfalt wird in dem Buch „Shanghai Straßenküchen“ durch ihr Essen präsentiert. Es handelt sich nicht um die raffinierte Küche aus tausenderlei Zutaten, die an gedeckten Tafeln bei gedämpfter Unterhaltung genossen oder in hochpreisigen Restaurants gegessen wird, sondern es geht um die Snacks der kleinen mobilen Küchen, die man überall in Shanghai finden kann. Frisch zubereitet reichen diese von gebackenen Süßkartoffeln, Jiaozi und Hundun bis Youtiao. Und das beste ist: jetzt kann man sie nachkochen. Das ist zwar aufwendiger, als kurz mal an die Ecke zu gehen, aber preiswerter als ein Flug nach Shanghai. Und das reich bebilderte Buch sorgt für ein bisschen Ambiente in der heimischen Küche. Man muss sich nur fragen, ob man das wirklich will, den schnellen Imbiss von der Ecke in den eigenen vier Wänden zubereiten. Ist das nicht ein bisschen wie Street Art unter Denkmalschutz stellen? Ich für meinen Teil blättere lieber in dem Buch, flaniere dabei in Gedanken durch die Straßen Shanghais, denke an die vielen Überraschungen dieser einfchen, ehrlichen Küche, die das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.
Vielleicht ist der ein oder andere Stand darunter, an dem ich auch schon mal war. Aber die Jianbings – chinesische Crepes fehlen. Was überhaupt bestimmte die Auswahl der Autorinnen? Die Geschichten der Menschen waren es wohl nicht. Sie sind sehr verhalten, auch fehlt mir eine irgendgeartete Einordnung seitens der Autorinnen.
Die vorgestellte Personen sind allesamt zufrieden. Kuaile jiu keyi le – Hauptsache glücklich, wie es Herr Zhu auf den Punkt bringt. Gemeinsam mit seiner Frau verkauft er in der französischen Konzession Digua – gebackene Süßkartoffeln. So wie er, sind die meisten der Straßenküchenbetreiber keine Freunde großer Worte. Aus allen Ecken des Landes hierher gekommen, haben sie ihr Kind oft in der Obhut der Großeltern gelassen und verdienen hier genug, um satt zu werden. Was das heißt und wie sie wirklich leben, das muss der Leser erraten. Wovon die Menschen träumen? Sie möchten ein bisschen reisen oder sich irgendwann mit einem eigenen Stand selbständig machen. Herr Zhang kommt aus Harbin und verkauft in Shanghai Congbing – Fladen mit Frühlingszwiebeln gefüllt. Anders als in anderen Geschichten gibt es hier einen plötzlichen Exkurs zu Harbin und dem berühmten Eisfest, um einen melancholischen Schluss zu finden. Denn Herr Zhang und seine Frau haben eine zehnjährige Tochter in Harbin, die sie sehr vermissen. Aber die 30 Euro für eine Zugfahrt, sitzend, 32 Stunden, können sie sich nur sehr selten leisten. So eine Bemerkung öffnet dem Leser eine fremde Welt.
Übrigens wurde das Buch 2012 als „Best Street Food Book“ von Gourmand ausgezeichnet. Der in Paris verliehene Gourmand Best Cook Book Award geht an die besten Koch-und Getränkebücher in verschiedenen Kategorien und will die „gute Küche“ und die Völkerverständigung fördern.
Julia Dautel, Nicole Keller: Shanghai Straßenküchen. Menschen, ihre Geschichten und Rezepte. AT Verlag Aarau und München 2012, 144 Seiten, 150 Farbfotos, gebunden, € 24,90.
(in: Ruizhong 1/2013, dnC 2/2013)