In seinem Buch „China in zehn Wörtern“ schildert Yu Hua sein Land einmal nicht fiktiv verdichtet, sondern erzählt Gehörtes und Gesehenes aus dem Leben seiner Landsleute. Zehn Wörter dienen ihm dabei als Gerüst für seine Assoziationen. Von Begriffen wie Volk, Führer und Revolution, die der Leser leicht mit dem sozialistischen China verbindet, über den einzigen Namen, nämlich Lu Xun, der sich unter den Wörtern findet, bis zu metaphorischen Begriffen, die vor allem in der jüngeren Geschichte des Landes zu Ruhm gelangt sind, wie Graswurzeln, Gebirgsdorf oder Schaukeln. Yu Hua dienen die Wörter als Anstoß, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, erlebte und gehörte Geschichten zu einem Bild zu verknüpfen, wie China funktioniert. Die Art des Erzählens erinnerte mich an Podiumsdiskussionen, die ich erleben durfte, in denen ein gutes Stichwort genügte, um den chinesischen Gast in einen ungeahnten Redefluss zu versetzen.
Der Autor verfolgt mit dem Buch einen kühnen Ansatz, nämlich die Zeit der Kulturrevolution mit der heutigen zu vergleichen. Seiner Meinung nach gibt es da nicht allzu große Unterschiede, nur die Vorzeichen haben sich verändert. „Diese beiden Perioden […] hängen eng miteinander zusammen! Zwar handelt es sich heute um eine völlig andere Gesellschaftsformation, doch sind bestimmte Übereinstimmungen in der Geisteshaltung der Menschen frappierend.“ (S. 291)
Yu Hua sieht das Buch als Fortsetzung seines Romans „Brüder“, mit dem er die Lücken nun füllen kann, die er im Roman lassen musste. In China trafen zwei Epochen, nämlich die der chinesischen Kulturrevolution mit ihrem ideologischen Fanatismus und die der chinesischen Gegenwart mit ihrem ungezügelten wirtschaftlichen Wachstum, aber auch ethischem Verfall in nur kürzester Zeit aufeinander, und Yu Hua fragt, was die beiden miteinander verbindet. Seine kleinen Geschichten sind mal traurig, mal grotesk.
Die Menschen warten heute wie damals auf den günstigen Augenblick, um aus dem Nichts etwas zu machen: Wie jener namenlose Mann, der sich zur Zeit der Kulturrevolution ein Siegel anfertigen ließ und sich damit zum Anführer des Rebellentrupps „Die Mao Zedong-Ideologie ist unbesiegbar“ machte. Plötzlich konnte er Leute auf der Straße anhalten und ihnen befehlen, aus der Mao-Bibel, dem kleinen roten Büchlein, was jeder damals bei sich tragen musste, zu rezitieren. Es blieb meist nicht bei einem Zitat, Seite um Seite wurde gelesen, bis er endlich schloss und verkündete, dass das Studium für diesen Tag beendet sei. Er hatte Macht und nervte gewiss, aber der „Rebellen-General ohne Truppe“ war auch allseits beliebt. Denn er konnte jedermann einen Empfehlungsbrief für eine Reise ausstellen. Bus- und Bahnfahrten sowie Hotelübernachtungen waren kostenlos, sofern man einen solchen Brief einer Rebellenorganisation bei sich führte. Und der gute Mann war bereit, jedem zu helfen. Bis ihm eines Tages etwas Schreckliches passierte: In einem unachtsamen Moment ließ er die Mao Zedong-Ideologie, also jenes wertvolle Siegel, ins Klo fallen. Jetzt nervte er, indem er sich selbst als Konterrevolutionär geißelte, bis die Kulturrevolution vorüber war, er wieder zu jenem namenlosen Mann wurde, der er vorher war, und vergessen wurde. „Graswurzeln“ ist die Überschrift jenes Kapitels, ein Wort, das für die Schwachen und Unangepassten der chinesischen Gesellschaft und deren kometenhaftem Aufstieg zum Synonym wurde. Oft allerdings auch für deren Fall.
In China durfte das Buch von Yu Hua nicht erscheinen. Wen wundert es, da doch die geschilderte Parrallelität im chinesischen Verhalten einigen Menschen ein Dorn im Auge sein könnte. Chinas Turbokapitalismus fußt auf den alten sozialistischen Kampftaktiken? Das ist ein frecher Ansatz. Und gleich im ersten Kapitel zum Thema „Volk“ nimmt Yu Hua mehrmals Bezug zum 4. Juni 1989, einem der Ereignisse bzw. Worte, bei denen bei der chinesischen Zensurbehörde die Alarmglocken schrillen.
Manchmal ermüdet die Aneinanderreihung immer weiterer Beispiele ein wenig. Meist aber folgt der Leser erstaunt der mäandernden Reise, die einen mitnimmt ohne den erhobenen Zeigefinger des „Ich weiß es besser, denn ich bin der Chinese“. Yu Huas Leutseligkeit und das Fehlen großspuriger Resumees sind durchaus nicht mit Harmlosigkeit zu verwechseln.
Das Buch ist durchzogen vom Yu Hua-Ton, den Ulrich Kautz wieder einmal wunderbar ins Deutsche übersetzt hat. In seinen beinahe trockenen Berichten ist immer das Unglaubliche und der Schrecken spürbar.
Yu Hua: China in zehn Wörtern. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 336 S., 19,99 €.
(in: dnC 2/2013)