PRO: Chen Yun-hua

Der Debutfilm von Nora Fingscheidt ist eine Wucht und in seiner Umsetzung erstaunlich. Die seit frühester Kindheit traumatisierte Bernadette möchte lieber Benni genannt werden. Der Blondschopf mit dem blassen Gesicht und den kristallklaren Augen könnte auch als zarter Junge durchgehen, wenn da nicht diese zerstörerische Kraft wäre. Bennis Mutter schafft es nicht, ihren gewalttätigen Freund zu verlassen, außerdem gibt es noch zwei kleinere Geschwister, um die sie sich kümmern muss. Da ist es nur gut, dass die immer mal wieder ausrastende Benni in die Obhut des Jugendamtes übergeben wird. Benni fliegt wiederholt von der Schule, weil sie austickt, und die Mitarbeiter des Jugendamtes schieben sie von einer Einrichtung in die nächste. Benni merkt, dass keiner sie haben will und ihr Schmerz wird pure Wut. Sie schreit nach Liebe, sucht mit Gewalt nach Sicherheit, es ist ein Ruf nach stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie versteht nicht, warum die Erwachsenen, zu denen einmal eine emotionale Bindung bestand, sich plötzlich abwenden und Distanz wahren. Sie sucht verzweifelt und vergeblich nach einem Mutterersatz.

Die junge Helena Zengel verkörpert diese Benni grandios. Die Emotionen und die physische Kraft der Rolle erlebt der Zuschauer intensiv, ihr verzweifeltes Brüllen geht durch Mark und Bein, auf ihrem kindlichen Gesicht kann man zugleich Schwäche, Wut, Hass, Verachtung und endlose Traurigkeit ablesen. Ihre schrillen Schreie durchdringen dickstes Glas und ihr Lachen lässt Eis schmelzen. Und mit den ein paar Köpfe größeren Jungs prügelt sie sich erbarmungslos. Wenn sie sich wieder beruhigt hat, gleicht sie einem Lämmchen. Helena Zengels perfektes Rhythmusgefühl und ihr emotionales Spiel tragen den ganzen Film. Besonders im letzten Teil, als ein Panoramaschwenk ihren das Trommelfell erschütternden Schrei begleitet, wird der Zuschauer an die Grenzen geführt.

Auch die anderen Rollen sind nuanciert und angelegt, voller Licht und Schatten, der menschlichen Natur entsprechend. Lisa Hagmeister als Mutter gelingt es, herauszustellen, dass sie sich ihrer Pflichten durchaus bewusst ist, sie liebt ihre Kinder, aber ihre Angst vor Benni siegt über diese Liebe. Sie fürchtet, dass sie allein nicht mit Benni fertig wird und die Gefühle ihr gegenüber sich auf die anderen beiden Kinder übertragen könnten. Ihr eigenes Liebesleben ist ein vergiftetes Chaos. Ihre Schwäche und ihr Zögern werden von Benni als ständiges Wechselbad empfunden, mal Himmel und mal Hölle. Albrecht Schuch, der in Bad Banks gespielt hat und damit auf der vorigen Berlinale bereits zu sehen war, ist der Sozialarbeiter Micha. In jungen Jahren hatte er ebenfalls Probleme, seine Wut in den Griff zu kriegen. Wenn er das Gefühl hat, mal wieder auszurasten, knetet er seine Fäuste und wartet, bis er wieder runterkommt. Als Benni im Krankenhaus ist, betrachtet Micha sie durch das Fenster zum Nebenraum. Der schmale blasse Körper ist am Krankenbett fixiert, ihr Blick, nach Verabreichung von Beruhigungsmitteln, scheint hoffnungslos und leer. Micha erinnert sich an seine eigene Vergangenheit und es entsteht ein stummes Verständnis zwischen den beiden. Benni ihrerseits sucht in Micha den Vaterersatz. Aber solche Nebengeschichten deutet Nora Fingerscheidt nur an, da genügt eine Einstellung, ein Blickwechsel oder der leere Kühlschrank zu Hause, der gerade laufende Fernseher, Fäden, die sie fallen lässt und nicht weiter analysiert. Gefilmt ist das Ganze in kühlen Farben, klar und realistisch, nur die kindlichen Verletzungen werden mit Wackelkamera eingefangen und schnell geschnitten.

Das Drehbuch ist sehr realistisch und herzzerreißend, aber ohne auf die Tränendrüsen zu drücken. Viele Filme mit Kindern in der Hauptrolle halten das nicht durch und werden rührselig. Aber Nora Fingerscheidt versteht die Balance zu halten und weiß, dass Lachen oft stärker als alle Hoffnungslosigkeit ist. Deshalb fügt sie der ausweglosen Geschichte eine Prise Humor hinzu. Solche komödischen Elemente sind im eher ernsthaften deutschen Gegenwartsfilm schon etwas Besonderes. In einem ihrer ersten Auftritte rastet Benni im Garten der Schule aus, brüllt und schmeißt Sachen herum. Die Lehrer bringen die anderen drinnen in Sicherheit, schließen die Tür und wollen abwarten, bis Benni sich wieder beruhigt hat. Daraufhin wirft sie einen Stuhl gegen die Glastür. Ängstlich erkundigt sich ein Lehrer, ob sie hier auch sicher seien. Ein Kollege beruhigt ihn: „Jaja, das ist Sicherheitsglas.“ Aber dann sehen wir plötzlich einen Riss im Glas. Am Ende des Films beraten Sozialarbeiter, Ärzte und Lehrer, was aus Benni nach zahlreichen Schulverweisen werden soll. Ein Sozialarbeiter schlägt ernsthaft vor, sie doch nach Kenia zu schicken.

Ob sie nach Kenia geht oder nicht, werden wir nicht erfahren. Ich würde den Film jedoch mit einer anderen Szene enden lassen, nämlich als Micha und Benni im Schnee sich im Schnee gegenüber stehen. Zwei Menschen, zwischen denen eine Beziehung und gewisse Abhängigkeiten bestehen, der von Rettungsfantasien befallene Sozialarbeiter und das von allen allein gelassene Kind. Der eine beschließt, das Problem zu verschieben, die andere möchte weglaufen. Das kindliche Trauma und die Gefühlsbarrieren sind sind einfach da. Ob vor sich selbst oder der Gesellschaft, es bleibt immer wieder das Weglaufen, kommst du näher, ziehe ich mich zurück. Der Film beschreibt genau dieses Einfangen-wollen und Weglaufen, schmerzlich, traurig und schön, aber ausweglos.

CONTRA: Ding Dawei

Zugegeben, der Film Systemsprenger ist sehr vielschichtig. Die Figuren sind äußerst lebendig angelegt. Benni ist eine Mischung aus Wasser und Feuer, die sich Stück für Stück auflädt. Wenn sie wütend ist, stiehlt sie, schlägt die Mutter, wirft mit Schimpfwörtern um sich. Ihr Charakter verändert sich gewaltig und niemand kann etwas gegen sie ausrichten. Die Story verlangt Benni wiederholt extrem emotionale Ausbrüche ab und entwickelt dadurch eine große dramatische Kraft. Die Kamera hält Schritt mit Bennis Atemfrequenz, was einen starken Eindruck hinterlässt.

Wir sehen, dass mit konventionellen Methoden und rationalen Argumenten Benni nicht beizukommen ist: Schulbegleitung, Adoption, verschiedene Wohngruppen, wieder zurück zur Mutter und wieder auf sich gestellt – alles völlig unwirksam. Und so ist der von der Regisseurin konzipierte Schluss auch kein richtiger Schluss, sondern ein Sprung in die Luft. Man denkt sofort an Alan Parkers Birdy, der sich ebenso wenig anpassen konnte und am Ende springt. Bei Birdy ist dieser Schluss der dramatische Höhepunkt, der viel über die Figur und ihre Geschichte verrät. Bennis Luftsprung gleicht eher dem in zahlreichen Punk-Videos, wo alles in der Schwebe bleibt, ein machtvolles Statement „dagegen“. Aber Systemsprenger einfach als Punkfilm zu sehen, wäre auch nicht richtig.

Bei Beschreibung dieses schwierigen Themas bemüht sich die die Regisseurin um eine realistische Darstellung und lässt die Sprengkraft des Themas klar spüren.

Der Film nimmt sich viel Zeit, um Bennis Unabhängigkeit und Anderssein zu beschreiben. Die normalen Kinder sind im Vergleich zu ihr ruhig und eher mittelmäßig, was die Lehrer lediglich mit Seufzen zur Kenntnis nehmen. Benni ist in den Widersprüchen der Realität gefangen. Dabei überzeichnet die Regisseurin die anderen wie Lehrer, Familie, Mitschüler und Ärzte nicht, sondern lässt sie voll ins Leere laufen. Der Konflikt Benni versus die anderen wird dadurch zu Benni versus System. Als Zuschauer überlegt man, wer denn eigentlich dieses System ist und wer die unzähmbare Benni ist. Das System ist das Konzept von Familie, das Bildungssystem, die soziale Fürsorge, der Humanismus, auf den der Westen so stolz ist, und die Freiheit.

Benni zu bändigen ist ein ganz normaler Wunsch. Zufällig ist es die Gesellschaft, die sie Dinge wie Freundschaft, Verantwortung und Disziplin lehrt. Als sie danach handelt, wird sie vor den Kopf gestoßen. Also schreit sie, wirft mit Dingen um sich und tickt aus. Am Ende lässt die Regisseurin beide Seiten des Konfliktes aufeinander treffen: einfach und kompliziert, verschlossen und offen. Schade ist nur, dass man daraus keine konstruktive Haltung gewinnt, nichts. Was gezeigt wird ist einfach und unlösbar. Der Sinn des Films liegt wohl in seiner Sprengkraft.

Aber der Film beunruhigt auch, denn Benni verkörpert die Rastlosigkeit der Generation des neuen Jahrtausends. Sie strahlt Zerstörung aus, ihre Suche nach Liebe ist zweideutig, der Vernunft gegenüber ist sie unzugänglich und dürstet nach Aktion. Der Film ist genau wie Benni, er ist dekonstruktiv. Wenn wir darauf bestehen, dass Zerstörung konstruktiv ist, müssten wir uns vielleicht wie Micha in die Brust werfen und den Schlag dieser kleinen Faust akzeptieren.

Systemsprenger