Literarische Geschichtsbewältigung à la Taiwan

Traumseelen und Geheimagenten

Stell dir vor, du sitzt am Computer und kannst mit einem Klick der Geschichte Taiwans eine andere Richtung geben, die kleine Insel aus höchster Not retten, wie schon einmal, du musst nur den richtigen Befehl wiederholen. Was wäre wenn …? Das ist die Versuchsanordnung in der Erzählung „Virtuelles Taiwan“ von Ping Lu, die 1997 entstand. Die Autorin erhielt im November 2024 den Literaturpreis Taiwans für „Land der Traumseelen“, den 3. Band ihrer Taiwan-Trilogie. In „Virtuelles Taiwan“ verknüpft sie historische Fakten in einem fiktiven Setting, bei zunehmender Fiebrigkeit der Hauptfigur: Was wird passieren? Welcher war der richtige Befehl? Das Kammerspiel mit historisch-utopischer Dimension beschließt den Reigen von zwölf taiwanischen Autoren, die das Buch „Von Berglern und Geheimagenten“ vorstellt. Identitätspolitik ist der rote Faden durch die Geschichten, wobei es neben Fragen der politischen Identität, wie in Ping Lus Erzählung, auch um die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder Ethnien geht, um soziale Schichten und Rollenmuster, bis hin zu Fragen sexueller Orientierung. Ich hatte Gelegenheit mit der Herausgeberin, Annie Hsu, zu sprechen. Zur Frage der Identität sagt sie, dass „Fremde kamen und gingen, sie Taiwan regiert und aufgebaut, die taiwanische Kultur bereichert, aber den Menschen auch viel Leid gebracht [haben]. Das könnte vielleicht erklären, warum Taiwaner Probleme mit ihrer politischen Identität haben“.

Von MeToo bis hinauf in die Berge Taiwans

Nicht immer so spielerisch wie in Ping Lus eingangs erwähnter Erzählung geht es um Marginalisierung indigener Kulturen, um tradierte Lebensformen, die mit der Modernisierung des Landes nicht Schritt halten, um Beharrlichkeit patriarchaler Strukturen und Klassismus in der modernen Gesellschaft. Die Geheimagenten im Buchtitel sind demzufolge auch keine Spione im Dienste eines feindlichen Staates, sondern Menschen, die ihre Identität verstecken und sich der dominierenden Gruppe versuchen anzuschließen, wie in der Erzählung von Hu Shu-Wen. Die Protagonistin ist eine Schülerin aus einfachen Verhältnissen, was sie zu verbergen sucht, sie beobachtet und bemerkt Geheimnisse der anderen, wird selbst zum willenlosen Objekt eines Lehrers, zu seinem „Geheimnis“, sie entdeckt schließlich, dass sie nicht allein ist, aber Erlösung bedeutet das nicht. Ich denke, viele Leser in anderen Ländern könnten sich durchaus in der Geschichte wiederfinden, denn das Phanomen findet sich auch anderswo. Vielleicht wird es nicht überall zu einer kollektiven Erfahrung. Auf die Frage nach einer Lieblingsgeschichte nannte Annie Hsu unter anderen diese von Hu Shu-Wen. Sie sprach von einer grausamen Realität, die Menschen in der taiwanischen Gesellschaft zwinge, ihre eigene Identität als minderwertig zu betrachten. Selbst Schülerin einer Elitegrundschule, erkannte sie erst später, dass Mitschüler, die wegen schlechter Noten von Lehrern bestraft oder von den anderen Kindern gehänselt wurden, meistens aus taiwanischen Familien stammten.

Aufstrebende Literatur

Geopolitisch ist Taiwan schon seit einigen Jahren ins Zentrum gerückt, denn nicht wenige Leute erwarten hier den nächsten Konflikt zwischen den Großmächten China und USA. Cinematographisch ist es vierzig Jahre nach der Taiwan New Wave und nachdem 2011 Seediq Bale in den Wettbewerb des Filmfestivals Venedig gewählt wurde, eher ruhig geworden, dafür aber macht die Insel literarisch zunehmend lauter auf sich aufmerksam. Genau dahinein fällt „Von Berglern und Geheimagenten“. Nach „Von Wahrsagern und Technofrauen“ (2021) mit zwölf Stimmen von Autorinnen aus Taiwan, ist dies der 2. im Projekt-Verlag erschienene Band mit Erzählungen aus Taiwan. Die Erzählungen wurden von Andreas Guder, Marc Hermann, Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder erstmals ins Deutsche übersetzt, und wo nötig, mit Anmerkungen versehen, so kann man viel über Taiwan und die literarische Bandbreite dort erfahren. „Die Geschichte von den Beuteltieren“ beispielsweise schildert eindringlich die Situation von modernen Frauen, die sich bis zur Selbstaufgabe um Familie, Haushalt und Kinder kümmern, um schließlich in einer Anklage ignoranter Ehemänner zu gipfeln. Dabei wendet sich Chu Tian-Hsin durch die Verwendung des Pronomens „du“ ganz direkt an die Leser und Leserinnen und bezieht sie so automatisch in die Zeugenschaft solcher Verhältnisse ein.

Und die ebenfalls titelgebenden Bergler? Diese abwertende Bezeichnung, auf Chinesisch 山地人 shandiren, gab die han-chinesische Bevölkerungsmehrheit den Indigenen. Die hier versammelten Autoren sind zwischen 1939 und 1977 geboren, drei von ihnen sind indigene Autoren. Auf den indigenen Kulturen liegt in den letzten Jahren besonderes Gewicht, wenn es zu der Frage kommt: Was ist taiwanisch? Wer sind wir?

Und noch einmal Annie Hsu: „Inzwischen haben sich immer mehr indigene Autoren einen Ruf im literarischen Bereich aufgebaut. Sie schreiben meist auf Chinesisch, versuchen zunehmend auch in ihrer Stammesssprache zu schreiben und bringen andere, neue Schreibstile mit.“ So wie Walis Nokan vom Stamm der Atayal mit seinem experimentellen Satzbau in der Erzählung „Eines traurigen Tages Gedenken“. Hans Peter Hoffmann folgt in seiner Übersetzung diesem besonderen Stil und Satzbau, was dem Leser einiges abverlangt. Badai vom Stamm der Puyuma schildert die beschwerliche Ingwerernte in den Bergen. Die ganze Familie und befreundete Helfer werden eingesetzt, um die Ernte und damit das Auskommen der Familie auf abenteuerlichen Bergpfaden ins Dorf zu bringen. Er beleuchtet dabei Strukturen, die zur Benachteiligung der indigenen Bevölkerung führten.

Von realen bis surrealen Settings bietet der Band einen breiten Überblick, auch wenn nicht alle Erzählungen wirklich packend sind und Spuren hinterlassen, als Orientierung in der vielfältigen Literaturlandschaft jedoch ist der Band sehr empfehlenswert.

Von Berglern und Geheimagenten. Zeitgenössische Erzählungen aus Taiwan
Übersetzt aus dem Chinesischen von Andreas Guder, Marc Hermann, Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, 2024; 307 Seiten, ISBN 978-3-89733-608-7

siehe auch: www.literaturfelder.com

Von Berglern und Geheimagenten