Die Zeit, das ist zwar nicht die Ewigkeit, denn die ist ihr in unserer europäischen Denktradition komplementär gegenüber gestellt, wie Jullien ausführt. Aber irgendwie ist sie permanent da: und wer kennt das nicht, mal rennt sie, dann heilt sie alle Wunden, sie wird gestohlen, denn schließlich ist sie Geld, ist eine Hülle, die gefüllt werden will und laut Einstein verschwinden Zeit und Raum mit den Dingen. Als Leser wird man plötzlich sensibilisiert für das Thema Zeit, das einen bis dato nicht unbedingt interessiert hat.

Alle reden von der Zeit, jeder kennt sie und will man sie erklären, geht es uns meist wie Augustinus: „Solange wir davon sprechen, glauben wir zu wissen, was wir sagen, aber wenn wir zu sprechen aufhören, um zu erklären, wissen wir nicht mehr, was wir denken.“
Ist die Zeit nun permanent da, indem man Anfangs- und Endpunkte setzt, diese zu messen in Analogie zur geradlinigen Zeit eines Körpers in Bewegung oder kann sie auch verschwinden? Und was heißt Gegenwart, wenn sich all unser Handeln doch nur auf einen Endpunkt richtet? Brauchen wir die Zeit oder wie es bei Jullien heißt: „War es überhaupt nötig, die Zeit zu denken?“ Und warum wurde in China die Zeit so nie gedacht? Sind die Chinesen dümmer als wir? Oder bloß zeitlos?

Die Arbeiten Francois Julliens umkreisen das Denken in China und Europa, ergründen Trennendes und Gemeinsamkeiten zweier Denktraditionen. Seine Vergleiche zieht er anhand ausgewählter Themenkreise, wie der Wirksamkeit (Über die Wirksamkeit), der Ästhetik (Über das Fade – eine Eloge), des Aktes in der Kunst (Vom Wesen des Nackten) oder anhand von Menzius und der Aufklärung (Dialog über die Moral). Die Philosophie, sagt er, richte sich ein in ihren eigenen Traditionen, das Denken werde bequem. Und um dem Denken neue Impulse zu verleihen, geht Francois Jullien den Umweg über China.
Nun also widmet er sich der Zeit, einem Begriff, der an die Grenzen der Philosophie stößt. Einerseits rätselhaft und nicht zu fassen, wird er andererseits als gesetzt angenommen und zur Routine: „Bleibend haben wir uns also in diesem seltsamen Begriff installiert, haben ihn zu unserer Bleibe gemacht: zur „Zeit“.“

In China dachte man den jahreszeitlichen Augenblick und die Dauer von Prozessen. In Korrelation befindliche Faktoren befinden sich in ständiger Interaktion. Nichts existiert alleine. Nimmt etwas zu, so nimmt anderswo etwas ab, China dachte den Prozeß, nicht aber jene „Hülle“ als abstrakte Zeit, die sowohl den Moment als auch die Ewigkeit enthält.
Fast wäre es dazu gekommen: Die Schule der späten Mohisten am Ende der chinesischen Antike wies starke Ähnlichkeiten mit dem griechischen Denken auf. Auch die späten Mohisten dachten den Körper in Bewegung, Distanz und Dauer. Aber man hat den Gedanken nicht weiter verfolgt. Francois Jullien macht denjenigen einen Vorwurf, die diesen Verzicht auf einen abstrakten Zeitbegriff als Mangel oder als Unfähigkeit verstehen. Nein, denn trotzdem gab es in China eine Zeitmessung mittels Sonnen- und Wasseruhren und trotzdem waren die Chinesen Meister in der Geschichtsschreibung. Ist es nicht vielmehr so, daß die westliche Philosophie die abstrakte Zeit gar nicht hätte denken müssen? Die philosophischen Diskurse über den Zeitbegriff sind nicht gerade leichte Lektüre, aber dank der sich durch das Buch ziehenden Marginalspalte, lädt es zum Blättern, zum sprunghaften Lesen und folglich zum eigenen Gedankenspiel ein. Was bedeutet die Zeit in unserem Leben und schließlich das Leben in der Philosophie? Wie werden die Tage und Monate (riyue), die vergehende Zeit in der Poesie hier und dort gespiegelt? Eröffnet das von der Zeit befreite chinesische Denken das Warten auf den günstigen Moment, das Leben à propos, wie es bei Montaigne heißt, nicht ermutigende Perspektiven als ein nicht zu fristendes Leben? Die Gedankenspiele und teils provokanten Fragestellungen Julliens wünschte ich mir auch in Richtung West-Ost ausgeführt: Welchen Einfluss z.B. hat das westliche Denken der Zeit auf das moderne China? Auf jeden Fall kann ich die Bücher Francois Julliens nur jedem am chinesischen Denken Interessierten empfehlen und wünsche mir, daß sie auch hierzulande Eingang in interkulturelle Seminare finden.

 

Francois Jullien: Über die »Zeit«. Elemente einer Philosophie des Lebens. diaphanes, Zürich-Berlin 2004. 237 S., € 24,90.

(in: dnC 2/05)

Francois Jullien: Über die »Zeit«
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