Februar ist wie immer Berlinalezeit und die Chance Filme „made in China“ jenseits des computeranimierten Gigantismus à la Zhang Yimou und Chen Kaige zu sehen. Ich muss allerdings zugeben, dass einzelne Filme früherer Jahrgänge mich durchaus mehr aufgewühlt haben, als die Summe der diesjährigen Beiträge aus China, Hongkong und Taiwan.
Der goldene Bär ging an Wang Quan’an und seinen Film Tuya de hunshi (Tuya’s Wedding). 19 Jahre ist es her, dass Zhang Yimou diesen Preis für Hong gaoliang (Das rote Kornfeld) bekam und damit der Siegeszug des chinesischen Kinos durch die Kinosäle der westlichen Welt begann. Heute bedeutet die Ehrung erneut eine Anerkennung für den Nicht-Mainstream.
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Trotzdem bin ich versucht, die Berlinale, d.h. die für das Festival ausgewählten chinesischen Beiträge als fade zu bezeichnen. Wobei ich fade hier, in Anlehnung an F. Jullien als Potential, als Ganzheit der dem Film innewohnenden Möglichkeiten verstehe. Ein Potential, das nicht ganz ausgereizt wurde. All die Geschichten der kleinen Leute und Außenseiter wurden recht brav erzählt. Auch wenn „brav“ vielleicht nicht das richtige Wort für ehe-und außereheliche Beischlafszenen ist, bei denen der Zuschauer nicht sicher sein kann, ob es sich nicht doch um eine Vergewaltigung handelt. Damit nämlich beginnt all der Wirbel um Pingguo. Pinguo ist eine der vielen jungen Frauen, die nach Beijing kamen, hier ein besseres Leben zu führen. Sie verleiht dem Film von Li Yu im Original ihren Namen und kommt sich im Laufe der Handlung abhanden, gets Lost in Beijing.
Pingguo arbeitet in einem Massagesalon, wird von Kunden und Kollegen geschätzt
Als sie einer Kollegin beisteht, die einem Kunden, der sie unsittlich berührte eine Abfuhr erteilt und nun gefeuert werden soll, verändert sich alles. Die beiden Mädchen betrinken sich, Pingguo kehrt in das Massageetablissement zurück, animiert – betrunken wie sie ist – ihren Chef, den sie für ihren Mann hält und der nutzt die Situation aus. Es kommt zu oben erwähnter außerehelicher Beischlafszene. Pinguos Mann, An Kun, seines Zeichens Fensterputzer der Beijinger Hochhausfassaden, putzte zufällig das Fenster, hinter dem der Chef des Massagesalons mit Pingguo zugange war. Verzweifelt versucht An Kun diese Situation für sich nutzbar zu machen, zunächst mit dilettantischen Erressungsversuchen. Als Pingguo feststellt, dass sie schwanger ist, wird er zum Spieler, der meint, nichts verlieren zu können: Einsatz sind Pingguo und das ungeborene Kind. Zwei Männer, ein Deal: es geht um Geld, es geht um Männlichkeit. Ein Goldkettchenbehangener Tony Leung Ka-Fai spielt den Besitzer des Massagesalons, dessen Ehe leider kinderlos blieb und der sich in die Freuden des werdenden Vaters geradezu hineinsteigert. Dabei bedient er alle Klischees des neureichen Großstädters immer am Rande zur Lächerlichkeit balancierend. Die sich rasant entwickelnde Gesellschaft überfordert auch die Menschen, die in ihr leben. Gewissheiten lösen sich auf und sie stolpern von einem Tag zum nächsten und von einem möglichen Vorteil zum nächsten. Was bleibt ist emotionale Leere. Die Frauen sind am Ende weg, irgendwo in dieser Stadt, lost in Beijing. Die Kamera gleitet immer wieder durch diese Stadt, vorbei an den Glasfassaden der Hochhäuser, fängt für Sekunden die Menschen auf dem Tian’anmen-Platz ein, darunter eine Gruppe, die das allmorgendliche Hissen der Flagge erwartet, lässt den Blick über vielbefahrene Magistralen schweifen und kehrt zurück zur Geschichte von Pingguo, einer unter vielen in der sich stetig wandelnden Metropole. Diese kurzen Intermezzi lösten eine Debatte über die chinesische Zensur aus. Das Thema „Zensur in China“ lässt sich keine Redaktion entgehen und dabei überdeckt es oft die Diskussion um die Filme selbst und deren Qualität. Im Vorfeld der Vorführung hieß es, die Zensur habe Schnitte verlangt u.a. Tian’anmen-Platz, Flagge und Baustellen betreffend, ohne die der Film in Berlin nicht gezeigt werden dürfe. Ich wage zu bezweifeln, dass dies die wahren Gründe sind, die die Zensoren auf den Plan riefen. Das zensorische Schelmenstück wurde vom Festival indessen pariert. Hier nämlich ließ man verlauten, die Übersetzung der zensierten Schnittfassung sei leider zum Termin der Vorführung nicht fertig. Und so lief der Film in seiner ursprünglichen und also unzensierten Fassung.
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Wie die Regiseurin Li Yu, die vor fünf Jahren bereits ihren Film Jin nian xiatian (Fish and Elefant) im Forum vorgestellt hat, ist auch der Gewinner des Goldenen Bären, Wang Quan’an, kein neues Gesicht in Berlin. 2002 lief sein wunderbar poetischer Debutfilm Yueshi (Lunar Eclipse) aus dem Jahr 1999 im Forum und zwei Jahre später Jingzhe (The Story of Ermei) im Panorama. Dem Leben abseits des Großstadtglamours ist er treu geblieben. Yu Nan als Tuya hüllt sich in warme Tücher gegen den kalten Steppenwind bei den Alltagsverrichtungen in einer zu schön photographierten Umgebung. Ihr Mann Bater, der sich beim Brunnenbau verletzt hat, kann zum Unterhalt der vierköpfigen Familie nichts beitragen. Das harte Nomadenleben setzt auch Tuya zu. Als sie erkrankt, überreden ihre Schwägerin und ihr Mann sie, sich scheiden zu lassen, um einen neuen Ernährer für die Familie zu suchen. Tuya willigt unter der Bedingung ein, dass der neue Mann Bater mit in sein Heim aufnehmen muss. Die Bewerber stehen Schlange, doch will sich keiner so recht mit Tuyas Bedingung anfreunden. Bater leidet währenddessen still, denn wie wir spätestens nach dieser Berlinale wissen, sind Mongolen keine Freunde großer Worte.
Aber in diesem offensichtlichen Leiden und Tuyas Beharren auf ihrer Forderung zeigt sich die Verbundenheit der beiden. Der einzige, den Tuya nie ernsthaft als Heiratskandidaten ins Auge gefasst hat, ist ihr Nachbar. Es ist Tuya, die ihn ab und zu betrunken in der Weite der Steppe auflas, die seine Hirngespinste verlachte und in ihm eher den naiven Spinner sah, dem nicht ganz zu Unrecht die Frau davongelaufen ist. Dann gräbt er ihr plötzlich einen Brunnen. Und als nach einem leisen Gefühlswandel am Ende die Hochzeit Tuyas mit Senge steht, beginnt das Unglück erst. Die letzte Einstellung zeigt Tuya allein am Hochzeitstag weinend in einer Jurte, während sich Bater und Senge auf dem Fest betrunken streiten. Der Film blendet hier aus. Der Goldene Bär für die solide erzählte Geschichte von Tuyas Hochzeit ist Ermutigung für all jene, die sich jenseits von Mainstream und Globalisierungswahn auf Bildersuche begeben.
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Und noch ein zweiter Wettbewerbsfilm spielte in der Mongolei, diesmal jedoch der äußeren. Hyazgar (Desert Dream) ist zwar eine koreanisch-französische Filmproduktion, ich möchte den Film hier dennoch erwähnen, weil der 1962 geborene Regisseur ein Chinese koreanischer Abstammung ist. Zhang Lu wurde in der Provinz Jilin geboren. Auch er ist kein Filmneuling mehr. In Cannes lief 2005 sein Film Mang zhong (Grain in Ear), der v.a. durch Stille und den Verzicht auf Dialoge und Musik auffiel. Diesem Prinzip bleibt auch Hyazgar treu. Zhang Lu zeigt Bilder von Weite und Trostlosigkeit. Lange, statische Einstellungen fangen eine Landschaft am Rand ein, wo die Wüste die Steppen bedroht. Eine Nordkoreanerin findet mit ihrem Sohn Unterschlupf in Hangais Jurte. Dessen Frau ist vor der unaufhaltsamen Wüste und Ödnis in die Stadt geflohen, er selbst pflanzt unermüdlich Bäumchen in den Sand. Eine wortlose Annäherung der beiden beginnt. Fast denkt man, sie könnte hier heimisch werden, wenn sie Hangai hilft, Bäumchen gegen das Vordringen der Wüste zu pflanzen. Aber sie will weiter. Auch das Auftauchen des in der Nähe stationierten Soldaten bleibt Episode. Die Frau aus Nordkorea zieht weiter. Doch wohin? Oder flieht sie vor der Erinnerung an ihren auf der Flucht erschossenen Mann? Der Film verlangt den Zuschauern ein gehöriges Stück Geduld ab, um sie dann mit einem Gefühl des Alles-ist-vergebens zu entlassen.
Der völlige Verzicht auf Dialoge und Musik ist ein mutiges Unterfangen, was allerdings diesem Film überhaupt nicht schadet, der voll auf seine Bilder einer erbarmungslosen Natur und der Vergeblichkeit menschlichen Tuns mittendrin vertraut.
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Die taiwanesische Regisseurin Zero Chou erzählt in Ciqing (Spider Lillies) von zwei jungen Frauen auf der Suche nach Identität und Liebe. Die eine findet deren Ausdruck in der Kunst des Tatoos die andere begibt sich in die Cyberworld. Ihre Wege kreuzen sich und beschwören Vergangenheit herauf. Takekos Vater kam bei einem Erdbeben ums Leben, ihr kleiner Bruder kann sich lediglich an das Tatoo auf dem Arm des Vaters erinnern. Es zeigt Spiderlillies, jene gelben Blumen, die den Weg ins Jenseits säumen. Takeko war in jener Nacht bei ihrer Freundin und wird fortan von Schuldgefühlen geplagt. Um ihrem Bruder Halt zu geben, lässt sie sich das Tatoo ihres Vaters auf ihren Arm tätowieren. Sie selbst findet ihre Berufung im Tätowieren. Eines Tages erscheint die junge Jade in ihrem Studio und verlangt genau jenes Tatoo der Spiderlillies als Erinnerung an ihre erste Liebe. So geht es um zwei miteinander verwobene Geschichten, die letztlich nicht leben, sondern konstruiert bleiben. Eine Filmstory am Schreibtisch entworfen, die nicht wirklich unter die Haut geht und bestenfalls ein Achselzucken hervorruft. Aber bei Freunden des schwul-lesbischen Films kam der Film vorbehaltlos an und das brachte ihm den Teddy-Award ein.
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Mona Lisa – das ist eine Marmor-und Steinfirma. Ein mit Mona Lisas Konterfei verhängter Bus klappert samt drittklassiger Tanzgruppe auf seiner Promotiontour die chinesische Provinz ab und wirbt für die Verschönerung des Heims. Jenseits dieses Rahmens erzählt der Film die Geschichte einer durch Anschuldigungen zerrissenen Familie auf der Suche nach einem Heim. Als die Großmutter im Sterben liegt, versucht die junge Xiuxiu einen Hafturlaub für ihre Stiefmutter zu erwirken, damit diese ihre Mutter noch einmal sehen kann. Die Stiefmutter sitzt wegen Kindesentführung im Gefängnis. Das vermeintlich entführte Kind ist Xiuxiu. Es bleibt offen, ob die Stiefmutter gut oder böse ist, ob es sich um eine Entführung handelte oder ob sie, wie sie selbst erzählt, sich um das verwahrloste kleine Mädchen kümmerte. Merkwürdig offen und unausgesprochen bleiben die Probleme innerhalb der Familie den ganzen Film über. Man möchte die Figuren geradezu anschubsen, ihre Gefühle oder ihre Meinung doch zu verraten, aber es passiert letztendlich gar nichts. Xiuxiu gelingt es, den Hafturlaub zu erwirken und sie begleitet quasi ihre Entführerin nach Hause. Am Ende kehrt diese zurück ins Gefängnis. Und der Zuschauer hat ein merkwürdiges Familienschicksal gesehen, was ihn ratlos zurücklässt. Geheimnisvoll wie das Lächeln der Mona Lisa.
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Gen zong (Eye in the Sky) vertrat den Film made in Hongkong im diesjährigen Programm. Der Drehbuchautor von Jonny To (PTU), Yao Nai Hoi, hat diesmal einen eigenen Film gemacht. Eye in the Sky nennt man die Beobachter beim Criminal Intelligence Bureau der Hongkonger Polizei. Und zu einer Beobachterin wird die junge Bo ausgebildet. Sie ist einer Gang, die Juwelenläden überfällt, auf der Spur und ihrem nicht zu unterschätzenden Mastermind. In der Rolle des Masterminds gibt es ein erneutes Wiedersehen mit Tony Leung Ka-Fai. Was passiert, wenn der Beobachter auch zum Beobachteten wird? Kann man unbeteiligter Beobachter bleiben oder wird man selbst zum Akteur? Der Zuschauer begibt sich mit der Hauptdarstellerin auf die detektivische Suche und lässt sich unmerklich tiefer in die Handlung hineinziehen. Und damit passiert die wundersame Wandlung des Zuschauers , die einigen Filmen auf der Berlinale versagt blieb.
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Für meinen Geschmack gab es dieses Jahr in Berlin zu viele Vorgeschichten und zu viel Gutgemeintes zu sehen. Der für mich schönste Film auf der diesjährigen Berlinale war Luo ye gui gen (Getting Home). Seinem Regisseur Zhang Yang ist ein humorvoller Blick auf China geglückt, mit einer Hauptfigur, die zu gut ist für diese Welt und dennoch siegt.
Daneben sind es Momente, wie die subjektive Handkamera in den Straßenschluchten Hongkongs oder eine kleine, unkrautgesäumte Straße irgendwo in Taiwan und das Geräusch der zirpender Grillen, was zusammengenommen den schwül-warmen Sommertag fast spürbar macht – die den chinesischen Film immer wieder auf’s Neue liebenswert machen.
(dnC 1/2007)