Die vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft herausgegebene Buchreihe „Jahresring“ widmet sich jeweils verschiedenen Aspekten Bildender Kunst. Der diesjährige Band trägt dem wachsenden über die Wirtschaftspolitik hinausgehenden Interesse an China Rechnung und widmet sich der Kunst und den künstlerischen Entwicklungen in China seit Beginn der Reformära in den 80er Jahren. Damit ist schon ein fast unmögliches Unterfangen beschrieben. Aber Waling Boers und sein Co-Herausgeber Pi Li stellten sich der Herausforderung und es gelang ihnen einen reich bebilderten Band zusammenzustellen, der die Vielfalt künstlerischen Schaffens und die Bandbreite kunstkritischer Positionen aufzeigt.

Waling Boers, Betreiber des „Büro Friedrich“, eines unabhängigen Kunstraumes in Berlin, und Pi Li, Kurator aus China, das ist auch keine zufällige Allianz, gründeten doch beide zusammen im Jahr 2005 die „Universal Studios“ in Beijing, wo sie versuchen trotz des gegenwärtigen China-Hypes unabhängig, das meint jenseits der Marktmechanismen zu arbeiten.
Der Buchtitel „Touching the Stones“ geht zurück auf ein Sprichwort, mit dem Deng Xiaoping die chinesische Öffnungsreform beschrieb. Sie müsse vorgehen, wie jemand, der einen Fluss durchquert, indem er bei jedem Schritt nach den Steinen tastet, die unter der Wasseroberfläche verborgen liegen. Solche Steine im Fluss der modernen Kunst vereint der Band in Form von Critical Clips genannten kunstkritischen Äußerungen aus China, zehn Schlaglichtern, die repräsentative Kunstwerke der letzten beiden Dekaden vorstellen, Interviews mit Künstlern und Essays von Experten der chinesischen Kunstszene. Einen Weg durch den Fluss kann sich der Kunstinteressierte selbst suchen, Steine liegen zur Genüge aus und sorgen für mehr oder weniger trockene Füße. Neben alten Bekannten wie Ai Weiwei, Zhou Tiehai oder Qiu Zhijie umfasst der Band auch etwa 25 visuelle Beiträge junger Künstler und schreibt damit und in den begleitenden Essays die künstlerische Entwicklung bis in jüngste Zeit fort. Und nicht nur das: China rückt auch zunehmend in den Fokus von Künstlern aus dem Westen. Drei von ihnen werden in „Touching the Stones“ mit ihren Projekten vorgestellt. „Touching the Stones“ durchbricht damit die Einbahnstraße von Kunstproduktion im Osten und Reflexion darüber im Westen und macht deutlich, dass auf Ebene des kulturellen Austausches China und Europa mehr zusammengrückt sind als offizielle Verlautbarungen glauben machen. Die hier versammelten Stimmen zur Kunstentwicklung gehen oftmals weit auseinander und reichen vom Vorwurf der westlichen Einflussnahme auf die Kunst in China (Yan Lei) über das Verhältnis der jungen Künstler des beginnenden 21. Jahrhunderts zu der sie umgebenden Realität (Pi Li und Waling Boers) bis zur Darstellung des Interesses des chinesischen Staates die moderne Kunst für sich nutzbar zu machen (Mark Siemons). Ein Verdienst in meinen Augen stellt die Vorstellung zahlreicher junger, nach 1970 geborener Künstler und ihrer Werke dar, die in ihrer Konzentration zur Auseinandersetzung mit ihrer Weltsicht einladen, die oftmals fragmentiert, sich aus den gegenwärtigen Lebensbedingungen ableiten lässt und jenseits konzeptioneller Entwürfe für ein neues Utopia liegen.
Die atmosphärischen bis wissenschaftlich fundierten Beiträge, die der Band versammelt bieten dem interessierten Leser einen guten Überblick über die jüngsten Entwicklungen in der chinesischen Kunstszene und unterstreichen die Tendenz, dass die Kunst aus China längst nicht mehr nur den Exoten unter den Kunstliebhabern gehört. In seinem Anspruch sehr unterschiedliche künstlerische Positionen vorzustellen, geht „Touching the Stones“ über viele Ausstellungskataloge hinaus und damit das Buch möglichst viele Leser erreichen kann erschien es auf Deutsch, sowie auf Englisch.

Waling Boers (Hg.): Touching the Stones. China Kunst Heute. Jahresring 53, Jahrbuch für moderne Kunst, Hg. Dr. Brigitte Oetker, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007, 279 S., € 28.

(dnC 2/2007)

Steine im Fluss